Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Nanu? Ein Nandu!
Auf Entdeckungstour zu den wildlebenden Laufvögeln Mecklenburgs
SCHÖNBERG (dpa) - „Die Leute erschrecken sich und rufen die Polizei“, erzählt die Frau an der Rezeption einer Pension in der Kleinstadt Schönberg in Nordwestmecklenburg. Sie hat diese Reaktionen von Besuchern schon oft erlebt. Auslöser des Aufruhrs sind gefiederte Kreaturen: Nandus.
Die Laufvögel leben eigentlich in Südamerika. Doch auch wer statt durch wilde Pampas durch die geordnete Kulturlandschaft östlich des Ratzeburger Sees wandert, hat keine schlechten Karten, den flugunfähigen Vögeln zu begegnen. Denn sie wohnen auch in Mecklenburg – in freier Wildbahn. Als sie 1999 südlich von Lübeck aus einer privaten Haltung ausbrachen, rechnete niemand damit, dass sich die Tiere etablieren würden.
Einer, der ihren langsamen Siegeszug seit Jahren beobachtet, ist Hermann Kielhorn, Jäger im Ruhestand, der auf einigen Hektar unweit der Ostsee als Pächter eines Reviers noch immer aktiv ist. Er zeigt uns, wo die Nandus sind. Um den Laufvögeln auf die Spur zu kommen, muss man kein Flugzeug besteigen – es genügt eine Fahrt mit Kielhorns Geländewagen. Auch zu Fuß lässt es sich ab Schönberg losziehen.
Plötzlich tauchen sie auf. Vögel in Hühnergröße, erst einer, dann zwei, dann drei. Insgesamt acht Küken queren von links den Weg am Ortsausgang von Törpt, einem Ortsteil von Niendorf. Und hintendrein schreiten stolz zwei ausgewachsene Hähne, von Kopf bis Fuß gut 1,50 Meter groß – bei den Nandus sind die Männchen für das Brüten und die Aufzucht zuständig. Als die Tiere Kielhorns Auto bemerken, erwacht ihr Beschützerinstinkt. Eilig staksen sie samt Brut auf ein abgeerntetes Weizenfeld.
Anders als heimische Tiere wie Wildschwein, Fuchs oder Reh stolzieren die Nandus auf offenem Feld auch tagsüber weit sichtbar umher. Als wüssten sie, dass man ihnen nicht viel könnte. „Ihre Fluchtdistanz ist ausgezeichnet“, sagt Kielhorn. So einen Laufvogel einzuholen, wäre keine leichte Übung, bis zu 60 km/h schnell kann er rennen.
Einen Eindruck vom Spurtvermögen dieser Tiere bekommen wir, als Kielhorn in einem weitem Bogen um die Vögel herumwandert und versucht, sie uns vor die Kameralinse zu scheuchen. Aufgeschreckt drücken die beiden Hähne auf die Tube – den Nachwuchs im Schlepptau. Ihre Körper schieben sich dabei ohne jegliches Auf oder Ab wie an einer Schnur am Horizont entlang. Nur die Beine bewegen sich.
Die Erfolgsgeschichte der Verwandten der Vögel Strauß und Emu in Mecklenburg begann mit einer Fehleinschätzung: Man nahm an, dass die Handvoll ausgebrochener Tiere die Winter Norddeutschlands nicht ertragen würden. Doch die Laufvögel vermissten offenbar weder das subtropische Klima noch Lama oder Tapir.
Als heimisch eingestuft
Auch von offizieller Seite hat man den Nandu als alltägliches Phänomen akzeptiert: Vom Amt für das Biosphärenreservat Schaalsee, wo sich die Vögel bevorzugt vermehren, werden sie „als heimische, wild lebende Art eingestuft, da sie sich seit mehr als zehn Jahren erfolgreich im Freiland reproduziert“. Nach Ministeriumsangaben hat sich der Laufvogel ostwärts schon bis in die Nähe des Schweriner Sees ausgebreitet. Wirtschaftlich nennenswerte Schäden richte er dabei nicht an, obwohl ein Landwirt schon einmal behauptet habe, um seine Rapsernte gebracht worden zu sein.
Ein Trip mit einem Waidmann wäre nichts ohne ein wenig Jägerlatein. Kielhorn erzählt: „Ein Jagdkollege behauptet, ein Nandu habe sich einmal im Stacheldraht verfangen. Er habe ihn erlösen müssen.“Anschließend brutzelte sich der Kollege dann ein Steak von dem Lauftalent. „Es müsste wie Strauß schmecken“, mutmaßt Kielhorn. Ein anderes Mal habe sich ein Bekannter eines Nandu-Eis bemächtigt und es in die Pfanne gehauen. „Das muss ein Omelett gegeben haben!“
Unter Artenschutz
Doch erlaubt ist all das nicht. Denn der Nandu steht unter dem Schutz des Washingtoner Artenschutzabkommens. Weder darf er geschossen, noch seine Gelege angetastet werden. Allerdings steht er als potenziell invasive Art unter Beobachtung. Doch Anlass zu Eingriffen in die Population sieht man bislang nicht. Natürliche Feinde behindern die Nandus im fremden Territorium kaum. Vereinzelt würden Wildschweine die Gelege fressen, sagt Kielhorn. Aber schon ein Fuchs hätte keine Chance, an einem Altvogel vorbei an ein Küken zu kommen.
Dass bislang niemand das touristische Potenzial abschöpft, das die langbeinigen Kreaturen mit den gebogenen Hälsen mitgebracht haben, verwundert. Beim Tourismusverband Mecklenburg-Vorpommern heißt es, der Nandu sei zu umstritten im Lande.
Noch ist man sich offenbar nicht so ganz einig, wie man mit dem Federvieh umgehen soll. Wird es irgendwann doch die Ernte oder gar heimische Arten bedrohen? Die CDU im Schweriner Landtag forderte vor einigen Jahren, die Tiere zum Abschuss freizugeben.
„Die Fluchtdistanz der Nandus ist ausgezeichnet.“Hermann Kielhorn, Jäger im Ruhestand
Oder sind die straußenähnlichen Exoten eine lukrative Attraktion? Immerhin werden vereinzelt Vorträge zu dem Laufvogel gehalten. Doch regelmäßige Angebote in dieser Richtung gibt es bislang nicht. Solang sich daran nichts ändert, müssen Touristen sich eigenständig auf die Pirsch begeben.
Zum Schluss unseres Trips kommen wir dem Laufvogel ganz nah. Die Wasseroberfläche des Ratzeburger Sees glitzert im Sonnenlicht. Dann stehen da wie surreale Skulpturen in der Kulturlandschaft vier Exemplare und picken das, was von der Weizenernte übrig ist. Bis auf zehn Meter lassen uns die Hennen an sich heran. Sie recken die Hälse und suchen Blickkontakt. Die Tiere scheinen zu wissen: Sie könnten flüchten, wenn sie wollten. Müssen sie aber nicht.