Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Bei Anruf Krise
60 Jahre Telefonseelsorge in Deutschland: Allein im Raum Oberschwaben-Allgäu-Bodensee klingelt es 22 000-mal pro Jahr
Es ist der sinnlose Tod eines 14jährigen Mädchens, der den Londoner Pfarrer Chad Varah am 2. November 1953 dazu bewegt, in das Büro der Tageszeitung „Times“zu gehen. Das unaufgeklärte Kind hatte seine erste Regel bekommen und aus Entsetzen, Scham und Unwissenheit darüber seinem Leben selbst ein Ende gesetzt. Unter dem Schock dieser Verzweiflungstat gibt Varah eine Annonce mit folgendem Wortlaut auf: „Bevor Sie sich umbringen, rufen Sie an!“Das Erscheinen der Anzeige gilt allgemein als Geburtsstunde der Telefonseelsorge in Europa. Drei Jahre später ist es dann auch in Deutschland soweit, genauer gesagt in West-Berlin, als der Arzt und Pfarrer Klaus Thomas vor 60 Jahren den Dienst als „Ärztliche Lebensmüdenbetreuung“gründet. Wie viele Leben durch die damals revolutionäre Möglichkeit, zu jeder Tages- und Nachtzeit mit einem Zeitungsaufruf des Londoner Pfarrers Chad Varah 1953, Geburtsstunde der
Telefonseelsorge menschlichen Kontakt sprechen zu können, inzwischen gerettet worden sind, entzieht sich einer statistischen Erfassbarkeit. Sicher ist aber: Allein im Jahr 2015 hat die von den christlichen Kirchen getragene Telefonseelsorge in Deutschland fast zwei Millionen Anrufe bekommen.
Einige dieser Anrufe gehen auf das Konto der 25-jährigen Lena, deren echte Identität und Geschichte ein wenig von den Fakten abweichen, um vom obersten Gebot der Anonymität in der Telefonseelsorge geschützt zu bleiben. „Hallo – ich, ich weiß nicht mehr weiter.“Die Studentin erinnert sich noch genau an den ersten Anruf und den allerersten Satz unter Tränen, damals in der schweren Zeit im vergangenen Jahr: „Ich steckte mitten im Prüfungsstress, als sich meine Jugendliebe von mir getrennt hat und von heute auf morgen ausgezogen ist.“
Die Studentin ist in ein Loch der Bodenlosigkeit gefallen. Die vormals ausgezeichnete Notenkurve bekam einen Knick. Das Scheitern ihrer Beziehung hat gleichzeitig ihr Selbstbildnis ins Wanken gebracht. „Es war nichts mehr übrig von der selbstbewussten Frau, die alle nur als strahlenden Siegertypen gekannt haben.“Der verzweifelten Studentin gelang es immer schlechter, das Bild der alten Lena aufrechtzuerhalten. „Es war ungeheuer anstrengend, nicht aus der Rolle zu fallen.“Ihr Stolz habe sie davon abgehalten, sich ihrem persönlichen Umfeld anzuvertrauen, ihrer Mutter, die so viele Hoffnungen in die Tochter gesetzt hat. Ihren Freunden, denen bislang sie immer eine Stütze war und nicht umgekehrt. In einer der besonders schlimmen Nächte forschte Lena im Internet – „mehr als Gedankenspiel, ohne wirkliche Selbstmordabsicht“– lose nach Methoden, wie ihr irdisches Leid notfalls schnell und schmerzlos zu Ende gehen könnte. „Es war mehr eine Sehnsucht, das alles nicht mehr ertragen zu müssen, weniger der Wunsch, wirklich Schluss zu machen. Und dann sah ich im Netz einen Hinweis auf die Telefonseelsorge. Und ich rief an.“
Vielleicht war es ja Britta, die sie in dieser finsteren Nacht am Apparat hatte. Jene 55-Jährige, die jetzt im Gruppenraum der Telefonseelsorge Ravensburg ihr strahlendes Lächeln zeigt. Genauso wie Lenas wirkliche Identität bei der Telefonseelsorge geschützt ist, spielen auch die echten Namen der ehrenamtlichen Mitarbeiter keine Rolle. Es ist nicht wichtig, wer sie sind. Es ist nur wichtig, dass sie da sind. Und zwar immer, rund um die Uhr. Britta übt den verantwortungsvollen Dienst am Telefon seit 2010 aus. Und sie sagt, dass sie dankbar ist für diese sinnvolle Aufgabe, dass sie ebenso viel zurückbekomme, wie sie gebe. Und doch gibt es schwierige Momente in ihrer Arbeit: „Es ist ein absoluter Albtraum, jemanden mit Suizidabsichten in der Leitung zu haben, der dann vielleicht einfach auflegt.“Glücklicherweise sei ihr das noch nicht passiert. Und natürlich bedeute es einen Unterschied, ob jemand am Telefon von seiner bevorstehenden Selbsttötung spricht oder aus Furcht vor der Führerscheinprüfung anruft.
„Sie entwickeln ein feines Gespür dafür, wie handfest Suizidgedanken wirklich sind“, sagt Gabriela Piber, die Leiterin der Telefonseelsorge Oberschwaben-Allgäu-Bodensee. Zwei verschiedene Paar Schuhe seien es, wenn jemand anruft und stöhnt: „Manchmal glaube ich, das hier hat alles keinen Sinn mehr.“Oder der Anrufer sagt: „Ich sitze in meiner Küche, während wir spre- chen, strömt leise das Gas aus dem Herd.“Beides komme vor, das Letztgenannte zum Glück deutlich seltener. Überhaupt sind die Anrufe im Zusammenhang mit Suizidgedanken stark in der Minderheit. Hauptgründe sind Einsamkeit, Krankheit, Depression und Beziehungsprobleme.
Sanftmut in der Stimme
Die verzweifelte Lena hat in der Nacht ihres ersten Anrufs jedenfalls nicht wirklich die Absicht, sich etwas anzutun. „Die Frau am Telefon hat mich aufgefangen“, erinnert sie sich. Es sei die Sanftmut in der Stimme gewesen, die Ruhe, die davon ausgegangen sei. Sie habe sich davon anstecken lassen. Das hat sie in die Lage versetzt, ihre Gedanken langsam wieder ordnen zu können. „Dabei hat sie nicht viel mehr getan, als zuzuhören. Aber das war in meiner Situation genau das richtige Mittel.“
Zuhören – und sonst nichts? Eine Grundregel der Telefonseelsorge lautet: „Es ist wichtig, keine Ratschläge zu erteilen“, sagt der Mann Mitte 50, der schon fast zehn Jahre in der Telefonseelsorge-Stelle Ravensburg arbeitet. Nennen wir ihn Karl. Er öffnet die Tür zum hellen Dienstzimmer: ein Schreibtisch mit Tele- fon, ein Computermonitor, eine Liege für kleine Pausen während der Nachtschicht von 23 bis 7 Uhr. Und ein gelber Zettel an der Wand mit der Aufschrift: „Zuhören ist die erste Antwort – und die beste.“Statt schlaue Tipps zu geben, fragen die Telefonseelsorger gezielt nach und versuchen die schwierige Situation, in der sich der Anrufer befindet, zu erfassen. Sie geben Anregungen, über sich selbst nachzudenken und über die Rolle, die sie etwa in einer komplizierten Beziehung spielen.
Aus Gründen der garantierten Anonymität dürfen Anrufe weder aufgezeichnet noch von Dritten mitgehört werden. Das Wählen der bundesweit einheitlichen Nummern 0800-1110111 und 0800-1110222 ist gebührenfrei und erscheint nicht auf der Telefonrechnung. Die Telefonseelsorge steht unter Schweigepflicht. Hilfe rufen dürfen und können die Mitarbeiter nur dann, wenn der Anrufer es in einer bedrohlichen
„Bevor Sie sich umbringen, rufen Sie an!“
„Es ist wichtig, keine Ratschläge zu
erteilen.“
Ein Mitarbeiter der Telefonseelsorge Lage – während eines aktiven Suizidversuchs etwa – ausdrücklich wünscht und dafür Adresse und Telefonnummer preisgibt. Das hohe Gut der Anonymität ist auch der Grund, warum Karl jetzt die Türe schließt, um die ersten Anrufe seiner Schicht allein entgegenzunehmen.
Lena geht es inzwischen wieder deutlich besser. Über sechs Wochen hinweg hat sie die Telefonseelsorge immer wieder kontaktiert, kam mit ganz unterschiedlichen Menschen ins Gespräch – und erwischte auch die Frau aus der ersten Nacht zufällig einmal wieder. Sie hat die Wohnung gewechselt, schließt das Studium bald ab und hat wieder einen Mann kennengelernt. „Ich bin dankbar, dass es die Möglichkeit der Telefonseelsorge gibt. Die Menschen dort leisten eine wichtige Arbeit.“Lena schämt sich fast ein bisschen dafür, dass sie bis heute niemandem erzählt hat, mehrmals die Nummer gewählt zu haben. Schwäche zeigen zu können, zuzugeben, Hilfe zu brauchen, das fällt ihr immer noch schwer. Dabei wäre es wichtig, dass die Telefonseelsorge ins Bewusstsein möglichst vieler Menschen rückt. Auch, um sie zu unterstützen. Mit Spenden oder durch ehrenamtliche Mitarbeit. „Was diese Einrichtung wert ist, habe ich erst gemerkt, als ich sie selbst gebraucht habe“, sagt Lena.