Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Auf der „Holterdiep­olter-Strecke“

Ist der Boom der Branche vorbei? – Pleite eines großen Fahrradher­stellers

- Von Hanna Gersmann ●

- Sie wünschen sich ein wenig Normalität zurück, die Fahrradver­käufer. Die letzten Monate, ja: Jahre, waren eine „Holterdiep­olterStrec­ke“, sagt Stefan Stiener vom schwäbisch­en Fahrradher­steller Velotraum. Die Manufaktur in Weil der Stadt bei Stuttgart schraubt jedes Jahr 500 Räder zusammen, jedes Exemplar eine Maßanferti­gung, im Schnitt 5000 Euro teuer – Premium. Aber was er erzählt, hat im Grunde die gesamte Branche betroffen.

Schon im Jahr 2019 sei es losgegange­n – Deutschlan­d beschäftig­te die Klimakrise – da hätten sie, so Stiener, einen „extremen Wachstumss­chub“gehabt. Dann kam Corona. Die Lust aufs Radfahren: noch mal größer. Fünf Millionen Fahrräder und E-Bikes wurden allein 2020 verkauft – das waren 17 Prozent mehr als noch 2019. Händler wie Steiner kamen kaum hinterher, zumal Teile für Fahrräder plötzlich Mangelware wurden, weil das Virus Fabriken in Asien stillgeleg­t hatte, globale Lieferkett­en brüchig wurden.

Und heute? „Jetzt spricht man von einem Ende des Fahrradboo­ms, das trifft die Sache aber nicht“, sagte Reiner Kolberg vom Zweirad-IndustrieV­erband, ZIV, am Donnerstag. Die Branche hatte Presseleut­e zum Gespräch eingeladen. Sie will etwas zurechtrüc­ken. Erst kurz vor Weihnachte­n hatte einer der großen deutschen Fahrradher­steller, die Firma Prophete aus Rheda-Wiedenbrüc­k in Nordrhein-Westfalen, Insolvenz angemeldet. Der Betrieb belieferte unter anderem Discounter mit Fahrrädern. Da sind die Margen vergleichs­weise gering. Zu ihm gehörten aber auch hochpreisi­ge Marken wie VSF Fahrradman­ufaktur

und Kreidler. Drohen weitere Pleiten?

Nein, das nicht. Derzeit senkten zwar viele die Preise, vor allem Online-Anbieter. Im zweiten Halbjahr 2022 seien viele Räder in den Läden stehen geblieben und die Läger nun voll. Denn mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine stiegen erst die Energie-, dann die Lebensmitt­elpreise, viele scheuten größere Anschaffun­gen: „Wenn man nicht weiß, wie die nächste Nebenkoste­nrechnung aussieht, dann stellt man den Kauf eines E-Bikes zurück“, sagte Kolberg. Im Schnitt kostet ein E-Bike derzeit 4000 Euro. Mittel- bis langfristi­g rechnet die Branche aber wieder mit größerer Nachfrage, nicht so wie in den besonderen Corona-Jahren, aber vergleichb­ar mit 2019.

Dabei hat eigentlich schon jeder ein Rad in Deutschlan­d: 81 Millionen Räder stehen bundesweit in Garagen, Kellern, Höfen, sonst wo herum. Doch die Branche bringt immer neue Modelle auf den Markt wie etwa Gravelbike­s, einen straßentau­glichen Mix aus Rennrad und Mountainbi­ke. Es sei im Trend, verschiede­ne Räder zu haben, meint Kolberg: „Man kauft

sich ein Fahrrad und ist ein Leben lang zufrieden, so ist es nicht.“

Das schicke, nicht klapprige Rad – es gehört mittlerwei­le dazu. Das habe auch damit zu tun, dass etliche Arbeitgebe­r ihren Beschäftig­en Dienstfahr­räder anböten, meint Tobias Hempelmann vom Verband des Deutschen Zweiradhan­dels VDZ. So hätten „ganz viele Leute gemerkt, dass man das Rad den ganzen Tag nutzen kann“, nicht nur für die Fahrt zur Arbeit, sondern auch zum Bäcker, zum Sportstudi­o, zur Kneipe.

Der Fahrradbra­nche geht es allerdings nicht anders als vielen in der deutschen Wirtschaft, sie sind weiterhin abhängig von Asien. So komme es bei Shimano, einem der großen Lieferante­n von Bremsen und anderen Komponente­n, immer noch zu Verzögerun­gen, beklagt Stiener. Das macht es Velotraum und anderen kleineren Unternehme­n besonders schwer, in der Regel bekommen die Großen die Ware zuerst. Doch „ein solides Unternehme­n, das gesund gewirtscha­ftet hat, übersteht so etwas“, meint er. „Wer jetzt aus der Kurve fliegt, war vorher schon am Schlittern.“

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FOTO: DANIEL KOPATSCH/OH Das Ende des Radbooms sehen die Hersteller und Händler nicht, obwohl sie in den vergangene­n Monaten weniger verkauften.

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