Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Dunkle Wolken über dem Rentnerparadies
Zuzugsstopp für Ausländer in der Türkei verschreckt Deutsche am Mittelmeer
- Eisbein und Schweinshaxe mit Sauerkraut stehen in „Willis Kneipe“in Alanya auf der Speisekarte, aus dem Lautsprecher dudelt deutsches Radio über die Strandpromenade. „Frischer Erdbeerkuchen“schreibt der Kellner auf eine Tafel unter Palmen, doch die Tische bleiben trotz milden Wetters leer. Viele ihrer Bekannten seien nach Deutschland gereist, um amtlichen Stempeln, Bestätigungsschreiben und Apostillen für die türkischen Behörden nachzujagen, erzählt eine deutsche Anwohnerin; die anderen seien auch nicht in Feierlaune. Alanya hat – wie viele andere Städte in der Türkei - so viele ausländische Einwohner, dass die türkische Regierung die Hürden für die Aufenthaltserlaubnis hochgesetzt und ortsweise sogar Zuzugsstopp für Ausländer erlassen hat. Das Leben im Rentnerparadies an der türkischen Riviera ist dadurch etwas weniger gemütlich geworden.
Alanya ist wegen seines milden Klimas beliebt bei Europäern und insbesondere bei Deutschen, von denen rund 3000 hier niedergelassen sind – so wie Annika B., die wegen einer chronischen Krankheit auf ärztlichen Rat nach Alanya kam. Seit sieben Jahren lebt die Rentnerin aus Leipzig nun in Alanya, und weil es ihr hier gesundheitlich tatsächlich besser geht, kaufte sie sich im Frühjahr eine Wohnung. Im Stadtteil Avsallar liegt die Zwei-Zimmer-Wohnung in einem Hochhaus – einem von Dutzenden Neubautürmen, die hier gerade entstehen. Trotz der Aussicht auf die Baustellen war die Rentnerin von der Wohnung mit Westseite sofort begeistert. „Ich habe den Sonnenuntergang, ich sehe das Meer, ich habe Bäume vor meinem Fenster – das fand ich alles toll“, schwärmt sie. Ob sie den Meerblick je genießen wird, weiß sie heute aber nicht mehr.
Längst sind es nicht mehr nur Rentner, die aus Deutschland nach Alanya kommen. Die deutsche Gemeinde in der Kleinstadt an der malerischen Mittelmeerbucht hat sich in den letzten Jahren deutlich verjüngt, wie die Maklerin Seyhan Arabaci erzählt, die in Alanya seit mehr als 20 Jahren Immobilien an deutsche Kundschaft vermittelt. Mit dem Aufschwung der Fernarbeit ließen sich auch junge Leute aus Deutschland an der türkischen Riviera nieder; der Waldorf-Kindergarten von Alanya ist bei deutschen Familien beliebt.
Die Deutschen sind auch nicht mehr unter sich in Alanya, wie sie es noch vor 20 Jahren waren; auch Auswanderer anderer Nationen haben das Städtchen entdeckt. Russen, Ukrainer, Iraker und Iraner machen inzwischen die Mehrheit der Ausländer von Alanya aus. Schon vor Ausbruch des Krieges in der Ukraine verzeichnete die Stadt einen historischen Höchststand an ausländischen Einwohnern. Nach Angaben der Handelskammer waren im August dieses Jahres mehr als 50.000 Ausländern in Alanya gemeldet, Touristen nicht mitgerechnet: Jeder siebte der 350.000 Einwohner von Alanya ist Ausländer.
Für die türkischen Einwohner von Alanya wird es eng – und vor allem teuer. Angesichts der hohen Inflation stöhnen die Türken im ganzen Land ohnehin über ihre Mieten, mit der Kaufkraft der Ausländer in Alanya können sie nicht mithalten. Beamte und Lehrer würden reihenweise um ihre Versetzung aus Alanya ersuchen, weil sie keinen bezahlbaren Wohnraum bekommen, klagt der Vorsitzende der Handelskammer, Mehmet Sahin. So gehe das nicht weiter, sagte Sahin der Lokalpresse: Die Zahl der aufenthaltsberechtigten Ausländer müsse auf 15.000 bis 20.000 reduziert werden, um die Stadt wieder für die Einheimischen erschwinglich zu machen. Bei der Regierung in Ankara rennt Sahin damit offene Türen ein, denn auch anderswo in der Türkei regt sich Unmut gegen Ausländer. Vier Millionen syrische Flüchtlinge hat das Land aufgenommen, dazu Zehntausende Menschen aus Afghanistan, dem Nahen Osten und Afrika, die eigentlich nach Europa wollten, aber wegen des Flüchtlingsdeals mit der EU in der Türkei hängen geblieben sind. In einigen Ortschaften der Türkei leben mehr Syrer als Türken, in manchen Bezirken der türkischen Großstädte auch. Mehrfach hat es schon ausländerfeindliche Unruhen und Krawalle gegeben, die Ausländer sind nach der Wirtschaft das führende Thema im beginnenden Wahlkampf. Ein Jahr vor den Wahlen zum Parlament und Präsidentenamt 2023 zog die Regierung im Frühjahr die Bremse und verhängte einen Zuzugsstopp für Ausländer in mehr als tausend Stadtbezirken der Türkei.
Mit Wirkung zum 1. Juli werde der Ausländeranteil in jedem Stadtbezirk auf 20 Prozent begrenzt, verkündete Innenminister Süleyman Soylu im Juni; an landesweit 1200 Orten werde künftig keine Aufenthaltserlaubnis für Ausländer mehr erteilt. Damit die Ausländerdichte tatsächlich verdünnt wird und sich niemand in einem „freien“Bezirk anmeldet, um dann in Wirklichkeit weiter unter seinen Landsleuten in einem Sperrbezirk zu leben, gehen PolizeiPatrouillen abends von Haus zu Haus und kontrollieren die Bewohner.
Für Annika B. aus Leipzig kam die Entscheidung aus Ankara wie ein Blitz aus heiterem Himmel. „Ich habe meine Eigentumsurkunde am 1. Juni 2022 bekommen und war einen Monat lang glücklich“, erzählt sie. „Und am 1. Juli, also genau einen Monat später, traf mich der Schock am frühen Morgen - da las ich in den Nachrichten: Zuzugsstopp für Ausländer in Avsallar und drei weiteren Gebieten von Alanya.“Aufgeregt rief sie bei der Ausländerbehörde an, die ihr bestätigte: Kein Ausländer dürfe mehr nach Avsallar ziehen - auch dann nicht, wenn er oder sie dort eine Wohnung gekauft habe. „Da brach für mich eine Welt zusammen“, sagt die Rentnerin.
Auf die deutschen Einwohner von Alanya habe die Maßnahme eigentlich nicht gezielt, sagt die Maklerin Arabaci. „Das ist jetzt nicht das Problem, dass die Deutschen, dass die Holländer oder Russen hier kaufen.“
Sie geht davon aus, dass die Regierung im Eifer ihrer Bemühungen, die Volksseele beim Ausländerthema zu beruhigen, einfach nicht an Alanya gedacht hat. Doch mitgefangen sind die Deutschen von der Neuregelung trotzdem, denn ohne Aufenthaltserlaubnis dürfen sie nicht mehr als 90 Tage im Halbjahr in der Türkei bleiben. „Das kann doch alles nicht wahr sein“, entsetzt sich Annika B: Alanya habe sich immer mit einem Multikulti-Image geschmückt und sei stolz darauf gewesen, wie viele Nationen hier friedlich zusammenleben, sagt sie. „Und plötzlich hat sich das gedreht: Man hat das Gefühl, Ausländer sind hier nicht mehr willkommen.“
Allerdings trifft der Zuzugsstopp auch Türken, und zwar jene, die in den Bau von Tausenden Wohnungen für Ausländer investiert haben. Überall in Alanya stehen Baukräne und halbfertige Hochhäuser voller Wohnungen, die für den AusländerMarkt konzipiert und zugeschnitten sind – auch und vor allem in den vier Stadtbezirken, die nun für Ausländer gesperrt sind. „Jetzt stellen Sie sich mal vor, Sie kaufen da, investieren 100.000 bis 300.000 Euro, und die Behörden sagen dann, nee, Sie dürfen nur drei Monate hierbleiben“, sagt Arabaci. „Das haut nicht hin.“
Der Maklerverein von Alanya, dessen Vizevorsitzende Arabaci ist, hat an die Regierung appelliert, Alanya von dem Aufnahmestopp auszunehmen. „Alanya kann man nicht wie Istanbul behandeln oder andere Städte“, sagt Arabaci. „Alanya muss man wirklich anders behandeln.“Die Maklerin ist guter Hoffnung, dass die Regierung dieser Empfehlung folgt; ob das noch vor den Wahlen im kommenden Jahr geschehen könne, sei allerdings fraglich.
In einer Frage hat die Regierung inzwischen immerhin nachgebessert und nachträglich einen Bestandsschutz für Ausländer gewährt, die vor dem 1. Juli gekauft hatten. Annika B. dürfte also in ihre Wohnung ziehen – weiß aber nicht, ob sie das überhaupt noch will. „Ich fühle mich tief verunsichert und weiß eigentlich überhaupt nicht: Besteht hier Rechtssicherheit? Kann ich auf irgendwas vertrauen?“, sagt die Rentnerin. „Weil es wird auch immer wieder gesagt: Naja, also du kannst da zwar jetzt hinziehen, aber wer weiß, wie es dann nächstes Jahr ist.“Statt in ihre Wohnung mit Meerblick einzuziehen, erwägt sie nun die Rückkehr nach Deutschland.