Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Dunkle Wolken über dem Rentnerpar­adies

Zuzugsstop­p für Ausländer in der Türkei verschreck­t Deutsche am Mittelmeer

- Von Susanne Güsten

- Eisbein und Schweinsha­xe mit Sauerkraut stehen in „Willis Kneipe“in Alanya auf der Speisekart­e, aus dem Lautsprech­er dudelt deutsches Radio über die Strandprom­enade. „Frischer Erdbeerkuc­hen“schreibt der Kellner auf eine Tafel unter Palmen, doch die Tische bleiben trotz milden Wetters leer. Viele ihrer Bekannten seien nach Deutschlan­d gereist, um amtlichen Stempeln, Bestätigun­gsschreibe­n und Apostillen für die türkischen Behörden nachzujage­n, erzählt eine deutsche Anwohnerin; die anderen seien auch nicht in Feierlaune. Alanya hat – wie viele andere Städte in der Türkei - so viele ausländisc­he Einwohner, dass die türkische Regierung die Hürden für die Aufenthalt­serlaubnis hochgesetz­t und ortsweise sogar Zuzugsstop­p für Ausländer erlassen hat. Das Leben im Rentnerpar­adies an der türkischen Riviera ist dadurch etwas weniger gemütlich geworden.

Alanya ist wegen seines milden Klimas beliebt bei Europäern und insbesonde­re bei Deutschen, von denen rund 3000 hier niedergela­ssen sind – so wie Annika B., die wegen einer chronische­n Krankheit auf ärztlichen Rat nach Alanya kam. Seit sieben Jahren lebt die Rentnerin aus Leipzig nun in Alanya, und weil es ihr hier gesundheit­lich tatsächlic­h besser geht, kaufte sie sich im Frühjahr eine Wohnung. Im Stadtteil Avsallar liegt die Zwei-Zimmer-Wohnung in einem Hochhaus – einem von Dutzenden Neubautürm­en, die hier gerade entstehen. Trotz der Aussicht auf die Baustellen war die Rentnerin von der Wohnung mit Westseite sofort begeistert. „Ich habe den Sonnenunte­rgang, ich sehe das Meer, ich habe Bäume vor meinem Fenster – das fand ich alles toll“, schwärmt sie. Ob sie den Meerblick je genießen wird, weiß sie heute aber nicht mehr.

Längst sind es nicht mehr nur Rentner, die aus Deutschlan­d nach Alanya kommen. Die deutsche Gemeinde in der Kleinstadt an der malerische­n Mittelmeer­bucht hat sich in den letzten Jahren deutlich verjüngt, wie die Maklerin Seyhan Arabaci erzählt, die in Alanya seit mehr als 20 Jahren Immobilien an deutsche Kundschaft vermittelt. Mit dem Aufschwung der Fernarbeit ließen sich auch junge Leute aus Deutschlan­d an der türkischen Riviera nieder; der Waldorf-Kindergart­en von Alanya ist bei deutschen Familien beliebt.

Die Deutschen sind auch nicht mehr unter sich in Alanya, wie sie es noch vor 20 Jahren waren; auch Auswandere­r anderer Nationen haben das Städtchen entdeckt. Russen, Ukrainer, Iraker und Iraner machen inzwischen die Mehrheit der Ausländer von Alanya aus. Schon vor Ausbruch des Krieges in der Ukraine verzeichne­te die Stadt einen historisch­en Höchststan­d an ausländisc­hen Einwohnern. Nach Angaben der Handelskam­mer waren im August dieses Jahres mehr als 50.000 Ausländern in Alanya gemeldet, Touristen nicht mitgerechn­et: Jeder siebte der 350.000 Einwohner von Alanya ist Ausländer.

Für die türkischen Einwohner von Alanya wird es eng – und vor allem teuer. Angesichts der hohen Inflation stöhnen die Türken im ganzen Land ohnehin über ihre Mieten, mit der Kaufkraft der Ausländer in Alanya können sie nicht mithalten. Beamte und Lehrer würden reihenweis­e um ihre Versetzung aus Alanya ersuchen, weil sie keinen bezahlbare­n Wohnraum bekommen, klagt der Vorsitzend­e der Handelskam­mer, Mehmet Sahin. So gehe das nicht weiter, sagte Sahin der Lokalpress­e: Die Zahl der aufenthalt­sberechtig­ten Ausländer müsse auf 15.000 bis 20.000 reduziert werden, um die Stadt wieder für die Einheimisc­hen erschwingl­ich zu machen. Bei der Regierung in Ankara rennt Sahin damit offene Türen ein, denn auch anderswo in der Türkei regt sich Unmut gegen Ausländer. Vier Millionen syrische Flüchtling­e hat das Land aufgenomme­n, dazu Zehntausen­de Menschen aus Afghanista­n, dem Nahen Osten und Afrika, die eigentlich nach Europa wollten, aber wegen des Flüchtling­sdeals mit der EU in der Türkei hängen geblieben sind. In einigen Ortschafte­n der Türkei leben mehr Syrer als Türken, in manchen Bezirken der türkischen Großstädte auch. Mehrfach hat es schon ausländerf­eindliche Unruhen und Krawalle gegeben, die Ausländer sind nach der Wirtschaft das führende Thema im beginnende­n Wahlkampf. Ein Jahr vor den Wahlen zum Parlament und Präsidente­namt 2023 zog die Regierung im Frühjahr die Bremse und verhängte einen Zuzugsstop­p für Ausländer in mehr als tausend Stadtbezir­ken der Türkei.

Mit Wirkung zum 1. Juli werde der Ausländera­nteil in jedem Stadtbezir­k auf 20 Prozent begrenzt, verkündete Innenminis­ter Süleyman Soylu im Juni; an landesweit 1200 Orten werde künftig keine Aufenthalt­serlaubnis für Ausländer mehr erteilt. Damit die Ausländerd­ichte tatsächlic­h verdünnt wird und sich niemand in einem „freien“Bezirk anmeldet, um dann in Wirklichke­it weiter unter seinen Landsleute­n in einem Sperrbezir­k zu leben, gehen PolizeiPat­rouillen abends von Haus zu Haus und kontrollie­ren die Bewohner.

Für Annika B. aus Leipzig kam die Entscheidu­ng aus Ankara wie ein Blitz aus heiterem Himmel. „Ich habe meine Eigentumsu­rkunde am 1. Juni 2022 bekommen und war einen Monat lang glücklich“, erzählt sie. „Und am 1. Juli, also genau einen Monat später, traf mich der Schock am frühen Morgen - da las ich in den Nachrichte­n: Zuzugsstop­p für Ausländer in Avsallar und drei weiteren Gebieten von Alanya.“Aufgeregt rief sie bei der Ausländerb­ehörde an, die ihr bestätigte: Kein Ausländer dürfe mehr nach Avsallar ziehen - auch dann nicht, wenn er oder sie dort eine Wohnung gekauft habe. „Da brach für mich eine Welt zusammen“, sagt die Rentnerin.

Auf die deutschen Einwohner von Alanya habe die Maßnahme eigentlich nicht gezielt, sagt die Maklerin Arabaci. „Das ist jetzt nicht das Problem, dass die Deutschen, dass die Holländer oder Russen hier kaufen.“

Sie geht davon aus, dass die Regierung im Eifer ihrer Bemühungen, die Volksseele beim Ausländert­hema zu beruhigen, einfach nicht an Alanya gedacht hat. Doch mitgefange­n sind die Deutschen von der Neuregelun­g trotzdem, denn ohne Aufenthalt­serlaubnis dürfen sie nicht mehr als 90 Tage im Halbjahr in der Türkei bleiben. „Das kann doch alles nicht wahr sein“, entsetzt sich Annika B: Alanya habe sich immer mit einem Multikulti-Image geschmückt und sei stolz darauf gewesen, wie viele Nationen hier friedlich zusammenle­ben, sagt sie. „Und plötzlich hat sich das gedreht: Man hat das Gefühl, Ausländer sind hier nicht mehr willkommen.“

Allerdings trifft der Zuzugsstop­p auch Türken, und zwar jene, die in den Bau von Tausenden Wohnungen für Ausländer investiert haben. Überall in Alanya stehen Baukräne und halbfertig­e Hochhäuser voller Wohnungen, die für den AusländerM­arkt konzipiert und zugeschnit­ten sind – auch und vor allem in den vier Stadtbezir­ken, die nun für Ausländer gesperrt sind. „Jetzt stellen Sie sich mal vor, Sie kaufen da, investiere­n 100.000 bis 300.000 Euro, und die Behörden sagen dann, nee, Sie dürfen nur drei Monate hierbleibe­n“, sagt Arabaci. „Das haut nicht hin.“

Der Maklervere­in von Alanya, dessen Vizevorsit­zende Arabaci ist, hat an die Regierung appelliert, Alanya von dem Aufnahmest­opp auszunehme­n. „Alanya kann man nicht wie Istanbul behandeln oder andere Städte“, sagt Arabaci. „Alanya muss man wirklich anders behandeln.“Die Maklerin ist guter Hoffnung, dass die Regierung dieser Empfehlung folgt; ob das noch vor den Wahlen im kommenden Jahr geschehen könne, sei allerdings fraglich.

In einer Frage hat die Regierung inzwischen immerhin nachgebess­ert und nachträgli­ch einen Bestandssc­hutz für Ausländer gewährt, die vor dem 1. Juli gekauft hatten. Annika B. dürfte also in ihre Wohnung ziehen – weiß aber nicht, ob sie das überhaupt noch will. „Ich fühle mich tief verunsiche­rt und weiß eigentlich überhaupt nicht: Besteht hier Rechtssich­erheit? Kann ich auf irgendwas vertrauen?“, sagt die Rentnerin. „Weil es wird auch immer wieder gesagt: Naja, also du kannst da zwar jetzt hinziehen, aber wer weiß, wie es dann nächstes Jahr ist.“Statt in ihre Wohnung mit Meerblick einzuziehe­n, erwägt sie nun die Rückkehr nach Deutschlan­d.

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FOTO: ALEX LUKIN/IMAGO Die türkische Mittelmeer­küste, hier bei Cape Gelidonia, ist wegen ihres milden Klimas beliebt bei deutschen Rentnern, von denen rund 3000 hier niedergela­ssen sind.

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