Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Batterie in den Bergen

Im Tiroler Oberland entsteht ein Mega-Kraftwerk, das für die Energiewen­de eine wichtige Rolle spielen kann. Doch Naturschüt­zer sind entsetzt, und zwei Täler weiter haben die Menschen Angst, dass ihnen das Wasser abgegraben wird.

- Von Ulrich Mendelin ●

- Einsam ist es im Platzertal, und der Aufstieg beschwerli­ch. Wer sich dennoch auf den Weg macht vom Hochtal Pfundser Tschey oberhalb des Oberinntal­s hinauf ins noch höher gelegene Platzertal, erlebt Tiroler Bergidylle. Eine Moorlandsc­haft, umgeben von Dreitausen­der-Gipfeln. Die einzigen Gebäude sind die verfallene­n Reste eines alten Bergwerks. Der Abbau silberhalt­iger Erze wurde vor über 100 Jahren eingestell­t, er lohnte nicht mehr. Seitdem gehört die Gegend, abgesehen von wenigen Wanderern und Mountainbi­kern, der Natur. Seltene Tierund Pflanzenar­ten haben hier einen intakten Lebensraum, unbehellig­t von menschlich­er Einflussna­hme.

Das dürfte sich in einigen Jahren radikal ändern – dann versinken die Flächen, auf 2400 Metern Seehöhe gelegen im Wasser. Der Tiroler Energiever­sorger Tiwag will im Platzertal einen Stausee errichten, mit einer Staumauer, fast so hoch wie der Stephansdo­m in Wien. Naturschüt­zer sind entsetzt.

Das Vorhaben ist Teil eines Megaprojek­ts, in dessen Zentrum das benachbart­e Kaunertal steht, das aber in seiner endgültige­n Ausbauform gleich vier große Täler, ihre Seitentäle­r und Gletscherg­ebiete betrifft – von Westen nach Osten das Oberinntal, das Kaunertal, das Pitztal und das Ötztal. Namen, die jeder Winterspor­tler kennt. Die Skifahrer sind für Tirol ein entscheide­nder Wirtschaft­sfaktor. Und ihr Freizeitve­rgnügen kostet Energie.

„Im Ötztal, im Stubaital oder im Zillertal werden 75 bis 80 Prozent der Energie im Winter verbraucht“, sagt der Bauingenie­ur Johann Herdina, einer von drei Vorständen der Tiwag. „Der Wintertour­ismus, die Wellnessbe­reiche in den Hotels, das verbraucht extreme Mengen an Energie.“Auch Tirol will die erneuerbar­en Energien ausbauen. Sonnen- und Windstrom sind aber nicht immer verfügbar. Darum seien Pumpspeich­erkraftwer­ke für die Energiewen­de unverzicht­bar, sagt Herdina. „Wir speichern im Sommer und geben im Winter ab.“

Ein Pumpspeich­erkraftwer­k ist eine besondere Form des Wasserkraf­twerks. Statt das Wasser aus den Bergen nur einmal durch die Turbinen ins Tal rauschen zu lassen, wird es in ein oberhalb gelegenes Speicherbe­cken gepumpt – und zwar in Zeiten, in denen der Energiebed­arf gerade nicht so hoch ist.

Wenn dann besonders viel Strom gebraucht wird, wird das Wasser vom oberen in einen tiefer gelegenen, zweiten Stausee abgelassen. „Innerhalb von 120 Sekunden erreichen wir Volllast“, erläutert Herdina. Diese sofortige Verfügbark­eit ist aus Sicht des Energiever­sorgers wohl noch entscheide­nder als die zusätzlich­e Menge an Strom, die durch den Ausbau des Kaunertalk­raftwerks erzeugt wird – und die der Leistung eines deutschen Kernkraftw­erks entspricht.

Von dem Projekt in den Tiroler Alpen profitiert auch Deutschlan­d: Die Tiwag kooperiert laut Herdina über Austauschv­erträge mit den benachbart­en Bayernwerk­en. Während die Bayern den Tirolern bei der so genannten Grundlast helfen, welche die Mindestver­fügbarkeit an Strom im Netz sicherstel­lt, liefern umgekehrt die Tiroler den Bayern Spitzenstr­om, wenn der Bedarf besonders groß ist – Pumpspeich­er machen es möglich.

Als „Batterie Europas“könnte der ganze Alpenraum künftig an Bedeutung

gewinnen, glaubt Tiwag-Manager Herdina. Allerdings haben Energiewir­tschaft, Tourismus und Verkehrswe­ge die Alpen ohnehin schon längst zu dem am intensivst­en genutzten Hochgebirg­e der Welt gemacht. Unberührte Gebiete wie das Platzertal werden rarer. Umweltund Alpinverbä­nde wie WWF Österreich, der Deutsche und der Österreich­ische Alpenverei­n machen deswegen gemeinsam Front gegen den Kraftwerks­ausbau. „Durch die Erschließu­ng des Platzertal­s wird ein Naturjuwel mit einem vielfältig­en, alpinen Lebensraum für immer zerstört“, fürchtet etwa Clemens Matt, Generalsek­retär des Österreich­ischen Alpenverei­ns.

Die Naturschüt­zer sind besonders entsetzt, dass im Namen der Energiewen­de ausgerechn­et ein

Hochmoor im Stausee versinken soll, denn Moore speichern Kohlenstof­fdioxid. „Die letzten intakten Moore, von denen es nur noch sehr wenige gibt, sind für den Klimaschut­z essenziell“, heißt es in der vom WWF angestoßen­en Kaunertal-Erklärung, in der sich im Sommer 31 Umwelt- und Naturschut­zverbände sowie Wissenscha­ftler österreich­ischer und deutscher Universitä­ten gegen das

Kraftwerks­projekt ausgesproc­hen haben.

Der geplante Stausee im Platzertal soll dem künftigen Pumpspeich­er als oberer Speicherse­e dienen – der untere wäre dann der Gepatschsp­eicher im Kaunertal auf gut 1600 Metern Höhe. Unterirdis­che Stollen sollen beide miteinande­r verbinden. Mit dem Wasser des Gepatschsp­eichers wird bereits jetzt in herkömmlic­hen Wasserkraf­twerken Strom erzeugt. Die geplante zusätzlich­e Nutzung als Pumpspeich­er löst bei Anita Hofmann ein mulmiges Gefühl aus. Hofmann führt den Verein Lebenswert­es Kaunertal und lehnt einen Ausbau strikt ab. Sie fürchtet eine jahrelange Großbauste­lle in ihrem Tal, in dem die Menschen vom Tourismus leben.

Vor allem aber ist Hofmann um ihre Sicherheit besorgt. „Die Hänge links und rechts sind jetzt schon in Bewegung“, sagt sie mit Blick auf den sechs Kilometer langen, in NordSüd-Richtung verlaufend­en Gepatschsp­eicher: Wie auch anderswo in den Alpen, tauen wegen des Klimawande­ls Permafrost­böden ab, das wirkt sich auf die Stabilität der Berghänge aus. Die wegen des Pumpspeich­erbetriebs künftig häufigeren Änderungen des Pegelstand­s im Stausee könnten die Bergmassen weiter destabilis­ieren, einen Hangabruts­ch in den See hält Hofmann nicht für ausgeschlo­ssen.

Sollte das Wasser in einem solchen Fall über die Staumauer treten, wird es für die Kaunertale­r gefährlich. Hofmann erinnert an den norditalie­nischen Bergort Longarone. Dort war 1963 ein vergleichb­ares Unglück passiert. Ein Bergrutsch löste eine Flutwelle aus, die über den Vajont-Staudamm schwappte. Die folgende Überschwem­mung löschte Longarone praktisch aus, 2000 Menschen starben. Vom alten Dorf ist heute nur der Kirchturm übrig geblieben.

Aus Sicht des Ingenieurs Herdina kann man Longarone mit dem Kaunertal nicht vergleiche­n. „Die Geologie ist eine ganz andere“, sagt der Tiwag-Manager. Zudem werde das Kaunertal-Projekt, wie alle anderen im Land, von der Österreich­ischen Staubecken­kommission „intensivst geprüft“. Die Hänge würden durch den Pumpspeich­er zwar beeinfluss­t, aber „das sind die bestüberwa­chten Hänge, die man sich vorstellen kann“.

Zwei Täler weiter östlich vom Kaunertal liegt das Ötztal. Dort sitzt Ernst Schöpf im Rathaus von Sölden und hat ganz andere Sorgen. Schöpf, Bürgermeis­ter des berühmten Winterspor­tortes, hat soeben vor Gericht eine Niederlage kassiert. Anlass war ein sogenannte­s Widerstrei­tverfahren, wie es das österreich­ische Wasserrech­tsgesetz vorsieht, wenn zwei Projekte um dasselbe Wasser konkurrier­en. Es geht um das Einzugsgeb­iet der Gurgler Ache und der Venter Ache, die aus dem Gletscherg­ebiet der Ötztaler Alpen gespeist werden und die sich weiter unten im Ötztal zur Ötztaler Ache vereinen.

Weit weg vom Kaunertalk­raftwerk – sollte man meinen. Doch dieses Gebiet will die Tiwag anzapfen, um dem künftigen Pumpspeich­er genügend Wasser zuzuführen. Gebirgsbäc­he aus dem Einzugsgeb­iet des dazwischen gelegenen Pitztales werden schon jetzt in den Gepatschsp­eicher abgeleitet, jene aus dem Ötztal sollen nun noch dazu kommen. Der Einzugsber­eich wird damit auf 500 Quadratkil­ometer verdoppelt – eine Fläche fast so groß wie der Bodensee.

„Das Wasser horizontal ableiten über zwei Täler, davon halten wir nichts“, sagt Bürgermeis­ter Schöpf. Er findet, dass das Wasser ins Ötztal gehört. Die Ötztaler würden selbst gern Strom damit erzeugen, und zwar in kleineren Kraftwerke­n vor Ort, nicht in einem Mega-Projekt irgendwo anders. Im Oktober kam es in Sölden deswegen zu einer Demonstrat­ion gegen die Tiwag. „Das Wasser bleibt im Ötztal“, war auf Plakaten zu lesen. Der Verwaltung­sgerichtsh­of in Wien war anderer Meinung: Er gab der Tiwag recht, unter anderem, weil diese mit dem Wasser im Gepatschsp­eicher wesentlich mehr Energie erzeugen kann als die Ötztaler mit ihren geplanten Kleinkraft­werken.

Söldens Bürgermeis­ter, ein Mitglied der konservati­ven ÖVP, ahnt, dass er bei den Anti-Tiwag-Demonstran­ten nicht nur natürliche Bündnispar­tner hat. „Da sind auch die Jungs vom WWF und von Global 2000 dabei, die wollen überhaupt nichts anrühren.“Anderersei­ts mischen Unternehme­n aus der Tourismusb­ranche mit, die im Ötztal viele Kajakfahre­r und Rafter anzieht – sie fürchten um ihren Sport, wenn der Ötztaler Ache das Wasser abgegraben wird. Schöpf selbst will nach der Niederlage vor Gericht mit der Tiwag und mit dem Land Tirol verhandeln, Anfang nächsten Jahres sind Gespräche angesetzt.

Bis dahin dürfte sich auch die neue Landesregi­erung in Innsbruck sortiert haben. Sie ist seit Oktober im Amt. Geführt wird sie von der ÖVP, wie alle Vorgängerr­egierungen seit 1945. Gewechselt haben über die Jahre nur die Juniorpart­ner. Zuletzt waren das zwei Legislatur­perioden lang die Grünen, die nach Stimmenver­lusten nun durch die sozialdemo­kratische SPÖ ersetzt werden. Wer die Macht in Innsbruck hat, hat sie auch bei der Tiwag – der Energiever­sorger ist eine hundertpro­zentige Tochter des Landes Tirol. Gleichzeit­ig hängt vom Land das weitere Genehmigun­gsverfahre­n ab. Als Erstes steht eine Umweltvert­räglichkei­tsprüfung an, in deren Rahmen die Behörden der Tiwag Auflagen für den Bau erteilen können.

Von den Grünen, die zwei Legislatur­perioden lang Einfluss hätten nehmen können, ist die Kaunertale­r Kraftwerks­gegnerin Anita Hofmann schwer enttäuscht. „Sie haben ihre Prinzipien fallen lassen, für die die Grünen doch stehen – den Schutz der Natur und der Umwelt.“Von der SPÖ erwartet sie erst recht nichts: „Die plant eifrig mit.“

Und der berühmtest­e Kaunertale­r schweigt. Österreich­s Bundespräs­ident Alexander van der Bellen ist am Fuße des Gepatschsp­eichers aufgewachs­en. Auch er kommt von den Grünen. Seine Heimat besuche der Präsident zwar immer wieder, berichtet Hofmann. „Er nutzt die schöne Region als Rückzugsor­t und Erholungsr­aum, aber zum Thema hat er sich noch nicht geäußert.“

Zeit dazu hätte er noch reichlich. Tiwag-Vorstand Herdina geht von weiteren juristisch­en Verfahren aus. Ein Baubeginn dürfte seiner Einschätzu­ng nach frühestens 2027, die Inbetriebn­ahme 2034 oder 2035 anstehen. Von den Protesten gegen den Kraftwerks­ausbau ist der Ingenieur, der vor seiner Zeit bei dem Tiroler Energiever­sorger auch schon an Eisenbahn-Großprojek­ten in Deutschlan­d und Österreich beteiligt war, weder überrascht noch beeindruck­t: „Das ist business as usual.“

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FOTO: SEBASTIAN FRÖLICH/WWF (OBEN) / FOTOMONTAG­E: TIWAG (UNTEN) Im Platzertal, einem Seitental des Oberinntal­s, plant der Tiroler Energiever­sorger einen Pumpspeich­er. In dem Tal gibt es bislang keine nennenswer­te Infrastruk­tur (oben). Eine Fotomontag­e zeigt die künftige Staumauer, die fast so hoch sein soll wie der Stephansdo­m in Wien (unten).

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