Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Das Leiden nach dem Leiden
Ärzte haben an der Ulmer Uniklinik eine Sprechstunde für Patienten eingerichtet, die mit Langzeitfolgen ihrer Covid-19-Erkrankung kämpfen – Sie wollen damit auch Erkenntnisse über das Post-Covid-Syndrom gewinnen
- Normalerweise sitzt Katrin Egle (Name von der Redaktion geändert) selbst kranken Menschen gegenüber. Sie arbeitet als leitende Arzthelferin in einer Landarztpraxis in einem Dorf bei Biberach. Doch die 48-Jährige ist seit zwei Monaten krankgeschrieben. Nichts geht mehr. Sie müsse sich „oft hinlegen“, sagt Egle, sei ständig erschöpft. Und das, obwohl sie noch vor Kurzem dachte: Jetzt geht es wieder aufwärts.
Ende November bekam die Frau, die es liebt, mit ihren Hunden an der frischen Luft zu laufen, die Diagnose: Covid-19. Katrin Egle war plötzlich „wahnsinnig müde“, litt unter Kopf- und Gliederschmerzen, verlor ihren Geschmackssinn. Doch nach wenigen Wochen klangen die Beschwerden dieser mittelschweren Corona-Erkrankung ab. Egle verließ die häusliche Quarantäne, ging wieder arbeiten. Ein Fehler.
Doch nicht die Schuld von Katrin Egle. Die meisten Menschen, die an Covid-19 erkranken, genesen in den Wochen der Quarantäne wieder vollständig. Recht bald ist alles beim Alten. Manchen allerdings spielt das Virus doppelt übel mit. Es folgt das Leiden nach dem Leiden. Ein bisschen so, wie am Ende eines klassisch gestrickten Hollywood-Thrillers. Zuschauer und Held denken, der Bösewicht ist besiegt, das Happy End zum Greifen nah. Bis der Halunke sich aufbäumt und versucht, doch noch einmal zuzuschlagen, wie aus dem Nichts heraus.
Im echten Leben und mit Blick auf Corona haben Mediziner wie Dr. Johannes Kersten von der Ulmer Uniklinik einen Namen für dieses Phänomen: „Post-CovidSyndrom“, oder auch Long-Covid. Es zeichnet sich aus durch Symptome, die auftreten, obwohl die eigentliche Infektion ausgestanden ist. Mehr und mehr gelingt es Ärzten jedoch, dieses unübersichtliche Krankheitsbild zu begreifen. Es sei ein „sehr buntes“Bild sagt Kersten, der mit Kollegen an der Ulmer Uniklinik eine der wenigen Sprechstunden für Corona-Patienten deutschlandweit eingerichtet hat, die einfach nicht gesund werden können.
Was ihr genau fehlt? Sie wäre froh, sagt Egle, wenn sie das wüsste. Alle Ärzte, die sie bislang aufsuchte, taten sich schwer mit einer Diagnose. Vier Monate nach Ausbruch ihrer Covid-19-Erkrankung sind ihre Beschwerden noch immer belastend, vor allem in der Summe: Ihr Geschmackssinn ist gestört, oft habe sie Fieber. Manchmal wache sie nachts auf und schnappe nach Luft. Dazu Druck auf der Brust. Und als wäre all das nicht genug, fühle sie sich total kraftlos, gerädert.
Dies erzählt sie in einem Besprechungsraum in der Uniklinik ihrem Gegenüber, der macht eifrig Notizen. Dr. Dominik Buckert arbeitet mit ihr einen Fragebogen ab. Er leitet die Sprechstunde für Menschen mit Post-Covid-Syndrom. Die Mediziner können sich kaum retten vor der Nachfrage. Seit sie die Sprechstunde Anfang des Jahres eröffnet haben, sprachen sie mit rund 100 Patienten, untersuchten sie, analysierten die Befunde. Noch rund 400 sollen dazukommen, mehr gehe aus Kapazitätsgründen nicht. Das Interesse übersteigt die Ressourcen der Ärzte um ein Vielfaches.
Die Anrufe in der Sprechstunde kommen sogar aus Hamburg oder Hannover. Auch von dort würden sich Menschen, die am Post-CovidSyndrom leiden, melden, sagt Johannes Kersten. Denn ähnliche Angebote wie das der Ulmer Uniklinik sind rar in Deutschland. Die Mediziner betreten Neuland. „Bis vor zwölf Monaten gab es die Krankheit ja auch noch gar nicht“, sagt Dominik Buckert. Ziel der Sprechstunde ist es, zu ergründen, wie genau die Symptome des PostCovid-Syndroms mit der vorangegangenen Erkrankung zusammenhängen. Gibt es Risikofaktoren? Ist es auszumachen, welche CoronaPatienten besonders gefährdet sind, nach der Infektion auch noch mit dem Post-Covid-Syndrom geschlagen zu werden?
Nachdem ihre Covid-19-Erkrankung vermeintlich ausgestanden war, ging Arzthelferin Katrin Egle wieder in die Praxis. Sie ist Drehund Angelpunkt zwischen Patienten und Arzt. Ihr Chef und ihre Kollegen seien auf sie angewiesen. Und müssen nun noch ein paar weitere
Wochen auf sie verzichten. Nach drei Wochen im Dienst habe sie gemerkt: „Es ist noch nicht so, wie es sein sollte. Da schafft noch was.“Eine echte Diagnose – Post-CovidSyndrom – erhielt die schlanke Frau erst, als sie Kontakt mit der Ulmer Sprechstunde aufnahm.
Fünf Patienten nehmen Buckert und seine Kollegen täglich in Augenschein. Wobei zunächst eine Bestandsaufnahme ansteht. So auch bei Katrin Egle, drei bis vier Stunden dauert die Prozedur. Sie beinhaltet unter anderem einen Ultraschall des Herzens, ein Check der Lungenfunktion, ein EKG und im späteren
Verlauf, wenn nötig, weiterführende Diagnostik. Eine Kernspintomografie des Herzens zum Beispiel.
Außerdem lässt Buckert die Patienten schwitzen: Sechs Minuten muss Egle einen Gang des Krankenhauses hoch- und runterjoggen, das sei recht aussagekräftig, sagt Buckert. Danach nimmt Egle in einem Kasten aus Glas Platz und bläst in ein Mundstück hinein. Die Mediziner wollen wissen, ob die Lunge richtig arbeite und genug Sauerstoff im Blut ist.
Die Mediziner, nicht nur die Ulmer, haben vor allem Lunge und Herz im Blick. Auffällig viele Menschen mit Post-Covid-Syndrom haben an mindestens einem dieser Organe Beschwerden. Die müssen nicht bleibend sein, trotzdem ist Vorsicht geboten. Denn Covid-19 kann dauerhafte organische Schäden verursachen.
Und dabei spiele es keine Rolle, wie schwer die ursprüngliche Covid-19-Erkrankung verlaufen ist. Das Bild ist diffus. In der Sprechstunde werden schwere Fälle des PostCovid-Syndroms dokumentiert, obwohl die eigentliche Viruserkrankung zuvor ziemlich leicht, gar unbemerkt, vorüberzog. Andersherum geht natürlich auch: schwere Covid-19-Verläufe und ein nur leicht verlaufendes Post-Covid-Syndrom im Nachgang. Vieles scheint möglich. Auch die Kombination aus
Corona-Patientin vier Monate nach der Erkrankung schwerer Covid-19-Erkrankung und anschließend schwerem Post-Covid-Syndrom.
Wie hoch der Anteil jener an der Gesamtzahl aller Corona-Infizierten ist, die auch unter Spätfolgen leiden, das lasse sich aktuell noch nicht verlässlich sagen, so der Mediziner Kersten. Manche seiner Kollegen sprechen von rund zehn Prozent. Kersten ist selbst CoronaBetroffener. Doch er hatte mehr Glück als Katrin Egle. Nachdem er die Infektion zu Hause in Quarantäne ausgestanden hatte, war er quasi aus dem Stand heraus wieder fit. Was er bislang festgestellt hat: Es seien mehr Frauen als Männer vom Post-Covid-Syndrom betroffen. Das könnte allerdings daran liegen, dass Frauen sich eher kümmerten um sich und ihren Körper, sensibler seien.
Bei Katrin Egle leidet nicht nur der Körper, auch ihre Konzentrationsfähigkeit habe abgenommen. Sie beschreibt eine Szene im Supermarkt – sie habe vor der Wursttheke gestanden „und plötzlich nicht mehr gewusst, was ich da will“. Solche Momente erlebe sie öfters, sagt Egle. Die zwar nicht hadert mit ihrer Situation, aber zugibt: „Es zehrt auch psychisch.“
Momentan überwiegt die Erleichterung, dass sie eine der wenigen ist, die aufgenommen wurden in die spezielle Sprechstunde. Mehrere Tage habe sie es telefonisch probiert, bis sie schließlich durchkam und dann auch genommen wurde. Was sie sich erhofft? In erster Linie Klarheit. Und dass ihr die Ärzte bescheinigen können, dass sie keine bleibenden Schäden davontragen wird. Sie schätzt: Im Vergleich zur Zeit vor ihrer CovidErkrankung beträgt ihre Leistungsfähigkeit aktuell nur „50 Prozent, vielleicht 60“. Die Beschwerden hätten in den vergangenen Wochen immerhin abgenommen.
Dass die Zeit manchmal für die Patienten spiele, ist für den Arzt Kersten keine Überraschung. Es existiert sogar ein Fachbegriff: die „abwartende Behandlung“. In einigen Fällen sei es tatsächlich „nur“eine Frage von Zeit und Ruhe, bis auch die Symptome des Post-CovidSyndroms verschwunden seien.
Und die, die länger laborieren? Für die kämen, so Kersten, verschiedene Therapien infrage. Für die richtigen Ansprechpartner der jeweiligen Disziplinen muss er nicht weit gehen. Unterm Dach des Uniklinikums finden sich Experten für nahezu jedes erdenkliche medizinische Fachgebiet. Vor wenigen Tagen vermeldeten Ulmer Forscher eine Mut machende Entdeckung: Sie stießen auf ein körpereigenes Protein. Es hemmt ein bestimmtes Enzym, das wiederum für die Aktivierung des viralen Spikeproteins des Coronavirus entscheidend ist. Der Effekt: Die Viren können nicht in die Zielzelle eindringen und sich damit nicht weiter ausbreiten.
All die geballte Kompetenz wird eines nicht schaffen, ist sich Johannes Kersten sicher, zumindest nicht auf absehbare Zeit: Dass ein Medikament entwickelt wird, das die vielfältigen Beschwerden im Nu besiegt. Die eine „Pille für alles“.
Warum wütet das Coronavirus so viel verheerender als andere Viren? Laut Kersten habe es das Potenzial, Entzündungen im Körper – an grundsätzlich allen Organen – hervorzurufen, die sich dann „selbst unterhalten“. Diese „Fähigkeit“des Coronavirus käme auch für die Medizin „ein Stück weit überraschend“.
Mit den Daten seiner Patienten in der Ulmer Sprechstunde will Dominik Buckert eine Studie erstellen, die grundlegende Aussagen treffen soll über die Zusammenhänge von Covid-19 und die mitunter schweren Nachwehen des PostCovid-Syndroms. Mitte des Jahres sollen erste Ergebnisse vorliegen. Buckert betreibt Grundlagenforschung, auf die Ergebnisse wartet nicht nur Katrin Egle, sondern hoffen Millionen Menschen rund um den Globus. Buckert vernetzt sich mit anderen Experten. Auch der Bund fördert die Untersuchung.
Die genaue Diagnose von Katrin Egle steht noch aus. Große Hoffnungen legt sie auch in eine Reha, die sie bereits bewilligt bekam. Ihr Wunsch für die kommenden Monate: wieder fit werden, zu 100 Prozent. Und dann Urlaub. Nicht im Flieger nach Mallorca, sondern in die Toskana, mit dem Wohnmobil. Das steht daheim in der Garage und wurde schon seit Längerem nicht mehr bewegt.
„Es ist noch nicht so, wie es sein sollte. Da schafft noch was.“