Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Technikfeindschaft ärgert Kretschmann
Für Baden-Württembergs Wirtschaft ist das Silicon Valley eine Bedrohung – und zugleich eine Chance
SANTA CLARA (kab) - Die ablehnende Haltung vieler Bürger zu neuen Technologien nervt Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Beim Besuch im Silicon Valley in Kalifornien sagte der Grüne, die Deutschen sollten damit entspannter umgehen und nicht immer „diese fürchterlichen Debatten“führen.
SANTA CLARA - Auf der Schwäbischen Alb kennt Winfried Kretschmann jedes Blümlein am Wegesrand. Im Naturschutzgebiet Muir Woods nahe San Francisco, wo Zigtausende uralte Mammutbäume stehen, kommt der ehemalige Biologielehrer an seine Grenzen. „Was isch des?“, fragt seine Frau Gerlinde und zeigt auf eine Pflanze. „Weiß ich net, des gibt’s bei uns net“, brummt ihr Mann. Zwei Tage später steht Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident im Demonstrationsraum des Prozessorenentwicklers Nvidia im Silicon Valley vor einem großen Bildschirm, über den in Sekundenschnelle Hunderte Blumen flimmern. So arbeitet eine App, mit der ein Nutzer Blumen in Echtzeit bestimmen kann – dank eines ultraschnellen Grafikprozessors von Nvidia. Diese Technik dient nicht nur Naturfreunden und Computerspielern, die seit zwei Jahrzehnten auf die Rechenleistung der Nvidia-Prozessoren schwören, sie wird auch dabei helfen, Autos in Zukunft selbstständig fahren zu lassen. Und diese Zukunft klopft gerade an die Tür.
Zum zweiten Mal nach 2015 ist Kretschmann mit einer großen Delegation im Silicon Valley unterwegs – dem weltweiten Epizentrum für Innovation eine Autostunde südöstlich von San Francisco. „Wer einmal kommt, ist ein Tourist. Wer ernstgenommen werden will, muss wiederkommen“, zitiert er den Rat seines CDU-Amtsvorgängers Günther Oettinger. Landesminister und Staatssekretäre sind ebenso mitgereist wie Dutzende Unternehmer, Verbandsvertreter, Abgeordnete und Journalisten. „Ich will sehen, was hat sich in den drei Jahren getan“, sagt Kretschmann. Denn im Silicon Valley sind drei Jahre eine Ewigkeit.
Die permanente Revolution
Hier nahmen nicht nur Technologiegiganten wie Apple, Facebook und Google ihren Anfang. Täglich werden hier Start-ups gegründet, die das Potenzial haben, herkömmliche Industriezweige zu revolutionieren. Disruption ist das Wort dafür. Für Gründer mit guten Ideen ist sie das Ziel, für manchen Mittelständler in Baden-Württemberg ein Schreckgespenst. Wagniskapitalfonds liefern für Start-ups das nötige Geld. „Venture Capital Funds investieren hier allein in künstliche Intelligenz mehr als insgesamt in Deutschland“, rechnet Andreas von Bechtolsheim vor. Allein 2017 haben Fonds mehr als 70 Milliarden Dollar in den USA investiert. In Deutschland seien es 40 Prozent davon gewesen. „Wir haben auch sehr schöne Start-upIdeen“, sagt Andre Schulte-Südhoff. Er ist Geschäftsführer der Schuko GmbH in Bad Saulgau, die Filteranlagen für Handwerk und Industrie fertigt, und ist Teil der Delegation. „Aber es fehlt das Geld.“
Von Bechtolsheim, selbst Wagniskapitalgeber, hat in Lindau sein Abitur gemacht und ist in den 1970erJahren in die USA ausgewandert. Als Google jüngst seinen 20. Geburtstag feierte, stand auch er wieder im Rampenlicht – er hatte dem Internetgiganten in der Gründungsphase den ersten Scheck über 100 000 Dollar für eine Beteiligung gegeben. Beim Börsengang von Google 2005 wurde diese auf 500 Millionen Dollar geschätzt.
Was sich bei der künstlichen Intelligenz derzeit tue, sei vergleichbar mit den Umbrüchen der Industriellen Revolution vor mehr als 100 Jahren, sagt von Bechtolsheim. Jedem jungen Menschen würde er heute raten: „Studiert Computerwissenschaften.“Noch nie habe es in der Geschichte des Silicon Valleys eine so rasante Entwicklung gegeben. Deshalb hat er auch einen Rat an seine Zuhörer aus BadenWürttemberg im Raum Portland des Marriott Hotels in Santa Clara: „Go Faster“, werdet schneller!
Die Sorge, den Anschluss zu verpassen, treibt die deutschen Unternehmen schon lange um. Die großen Firmen wie Bosch, Daimler und SAP sind längst mit eigenen Standorten im Silicon Valley vertreten. Schwerer haben es die vielen „hidden champions“, die kleinen und mittelständischen Unternehmen aus Südwestdeutschland. Was, wenn Mario Herger recht hat? 2001 ist der Österreicher über SAP ins Silicon Valley gekommen, heute führt er ein Beratungsunternehmen. Die Zukunft, die er zeichnet, sieht für das Autoland Baden-Württemberg ziemlich düster aus. „Software frisst Hardware“, sagt Herger. Durch Elektromobilität und vernetztes, autonomes Fahren stünden ein Drittel aller Arbeitsplätze im Ländle auf der Kippe – all diejenigen, die am Verbrennungsmotor hängen. Er zieht einen Vergleich zur amerikanischen Autometropole, die den Wandel verschlafen hat: „Die Frage ist: Werden Stuttgart, München, Wolfsburg irgendwann zu Detroit?“
Herger erzählt vom Google-Unternehmen Waymo, das seit 2009 autonome Autos durchs Silicon Valley fahren lässt. Waymo ist nicht das einzige, hat mit 600 Fahrzeugen aber die größte Flotte. 2019 will Waymo hier mit Jaguar nach und nach 20 000 autonome Robo-Taxis auf die Straße bringen – Herger vermutet, dass der Prozess in wenigen Wochen beginnen wird. Und Deutschland? „Wir gründen als erstes eine Ethikkommission, statt zu gucken, wie die Autos fahren. Der Wille fehlt“, sagt er – und so werde die Zukunft verschlafen. Dabei habe diese Entwicklung großes Potenzial, etwa für den ländlichen Raum, für alte und eingeschränkte Menschen. Das autonome Auto könnte den Nutzer für wenig Geld an der Haustür abholen. 80 bis 90 Prozent könnten im Vergleich zum öffentlichen Verkehr gespart werden – und der mühsame Weg zum Bus.
Doch es gibt auch andere Töne, „das sind eher die stilleren“, erklärt Sven Beiker. Bevor er ins Silicon Valley kam, arbeitete der Ingenieur bei den großen Autobauern in Deutschland. Inzwischen hat er einen Lehrauftrag an der Elite-Universität Stanford in Kalifornien und die Beratungsfirma Silicon Valley Mobility gegründet. Dass das autonome Fahren so schnell kommt und alle anderen Verkehrskonzepte verdrängt, sei seine Analyse zufolge fraglich.
Präsenz ist unabdingbar
In einem Punkt sind sich die Experter aber einig: Wer an der Zukunft teilhaben will, muss im Silicon Valley vor Ort sein. Es gehe nicht um Konkurrenz, denn die sei aussichtslos. Es gehe um Kooperation. Baden-Württemberg hat das seit Kretschmanns Reise vor drei Jahren beherzigt und das InnovationCamp BW ins Leben gerufen. Es gibt Mittelständlern die Möglichkeit, drei Wochen vor Ort zu sein, Kontakte zu knüpfen, den „spirit“(Geist) der Szene zu erfahren. Im Mai war der erste Durchlauf. „Da kann ich nur applaudieren“, sagt Sven Beiker. Lob kommt auch vom deutschen Generalkonsul in San Francisco, Hans-Ulrich Südbeck. Die technologischen Umwälzungen hätten vor allem für den Mittelstand gravierende Auswirkungen. „Ich bin froh, dass sich Baden-Württemberg mit dem InnovationCamp darum kümmert“, sagt Südbeck. „Es gibt in Baden-Württemberg mehr Verständnis dafür als in den anderen Bundesländern.“Die Mittelständler sollten hier den „Silicon-ValleyMindset“, also das Denken hier verstehen.
Thilo Ittner und Ingmar Stöhr von der Leutkircher Elobau GmbH lernen das gerade. Das Traditionsunternehmen mit seinen 900 Mitarbeitern und einem Umsatz von zuletzt 98 Millionen Euro bietet weltweit Sensortechnik für Land- und Baumaschinen. Ittner, der Co-Geschäftsführer, und Stöhr, Leiter des Innovationsteams, sind Teil der zweiten Runde des InnovationCamps. Der Grund: „Unsere Zielbranchen werden sich drastisch verändern“, sagt Ittner – und verweist wieder auf Automation. „Man kann nicht im Allgäu sitzen und warten, was passiert.“Die erste Woche haben sie bereits hinter sich und in einem Trainingslager mit den anderen Teilnehmern gelernt, was die Erfolgsfaktoren des Silicon Valley sind: „Man muss groß denken“, sagt Ittner, „selber gestalten und zum Porsche werden.“
Beide zeigen sich überrascht, wie einfach es ist, hier Termine mit relevanten Unternehmern zu bekommen. „Es ist 100 Prozent anders als in Deutschland“, sagt Stöhr. „Die Gesprächspartner erzählen einem alles.“In den kommenden beiden Wochen haben die beiden zwei bis drei Termine pro Tag – mindestens. Zum Vernetzen und Suchen von möglichen Partnern. „Es gibt Firmen hier, die sehr gut zu uns passen“, sagt Ittner. Und nach ihrer Rückkehr wollen sie Botschafter sein, wollen den Geist des Silicon Valley mitnehmen: Risikobereitschaft im Unternehmen fördern und Freiheiten für Innovationen schaffen – Scheitern ausdrücklich erlaubt. Und sie wollen sich noch offener mit Kunden und Partnern aus der Branche austauschen, als sie es eh schon tun.
Die erste Halbzeit sei schon für das Silicon Valley und gegen BadenWürttemberg entschieden, sagt Kretschmann. „Wir müssen gucken: Wo ist die Lücke für uns, wo wir unsere Stärken ausfahren können.“Die sieht der Landesvater klar in der Industrielandschaft. „Wir müssen die Leute finden, um künstliche Intelligenz für unsere Industrie zu nutzen.“Die Softwarewelt müsse an die Hardwarewelt angeschraubt werden. Dabei werden viele Arbeitsplätze verloren gehen und andere entstehen.
Doch was, wenn uns auch die Hardware verloren geht? Wenn einer der Softwaregiganten einen Autobauer wie Daimler kaufen will? Kretschmann legt die Stirn in Falten. „Der Amazon kann erst mal kaufen, was er will“, sagt Kretschmann. „Für einen Ministerpräsidenten aus Baden-Württemberg ist diese Frage zwei Nummern zu groß.“
„Die Frage ist: Werden Stuttgart, München, Wolfsburg irgendwann zu Detroit?“
Mario Herger, Chef eines Beratungsunternehmens im Valley
„Man kann nicht im Allgäu sitzen und warten, was passiert.“
Thilo Ittner, Co-Geschäftsführer der Leutkircher Elobau GmbH