Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Richter müssen Fixierung anordnen
Was das Urteil zur Fixierung von Psychiatrie-Patienten bedeutet – Fakten im Überblick
KARLSRUHE (epd) - Patienten dürfen nicht allein auf ärztliche Anordnung im Krankenbett stundenlang fixiert werden. Ein Richter müsse vorher, oder wenn dies nicht möglich ist nachträglich, die Fixierung genehmigen, entschied das Bundesverfassungsgericht in einem am Dienstag verkündeten Urteil. Die Karlsruher Richter erklärten damit landesgesetzliche Regelungen in BadenWürttemberg teilweise für verfassungswidrig und rügten fehlende bayerische Bestimmungen.
BERLIN - Grundsatzurteil aus Karlsruhe: Das Bundesverfassungsgericht führt neue Auflagen für die Fixierung von Psychiatrie-Patienten ein. Dauert die Fesselung ans Bett länger als 30 Minuten, müssen künftig Richter grünes Licht geben. Staatlicher Freiheitsentzug sei die schwerste Form der Freiheitsbeschränkung, begründet Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle am Dienstag die Entscheidung. Was steckt hinter dem Urteil? Und was bedeutet es? Die Fakten im Überblick.
Die Klagen und das Urteil: Zwei Patienten aus Bayern und BadenWürttemberg hatten Verfassungsschutzbeschwerde eingereicht, weil sie zwangsweise in eine Psychiatrie eingewiesen und dort gegen ihren Willen fixiert worden waren. Beide wurden auf Anweisung von Ärzten stundenlang an Armen, Beinen und Torso ans Bett gefesselt, der Kläger aus Baden-Württemberg wurde zusätzlich am Kopf fixiert. Der bayerische Patient war stark alkoholisiert, und es bestand Suizidgefahr. Der Mann aus Baden-Württemberg litt unter einer psychischen Störung und war aggressiv, warf mit Gegenständen nach dem Personal. Beide sahen ihr Grundrecht auf Freiheit der Person verletzt. Die Karlsruher Richter gaben ihnen recht: Die Fixierung sei ein Eingriff in das Grundrecht auf Freiheit und müsse von Richtern genehmigt werden, so das Urteil. Die Fesselung ans Bett werde „umso bedrohlicher erlebt, je mehr der Betroffene sich dem Geschehen hilflos ausgeliefert sieht“, sagte Voßkuhle.
Warum das Urteil notwendig wurde: Ob Patienten gegen ihren Willen fixiert werden können, sorgt seit Jahren für intensive Debatten. Betroffen sind Zigtausende von Menschen. 0,5 bis zwei Prozent aller Psychiatrie-Patienten werden mit Zwangsmaßnahmen ruhiggestellt, schätzt Arno Deister, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (DGPPN). Dennoch gab es bundesweit keine einheitlichen Regeln. Fixierung bleibt nun zwar weiter zulässig. Wenn diese absehbar länger als eine halbe Stunde fortdauern wird, muss aber ein Richter zustimmen. Kommt es in der Nacht zu Zwangsmaßnahmen, muss am Morgen die richterliche Genehmigung eingeholt werden. Die konkreten Konsequenzen: Karlsruhe gibt den Bundesländern ein Jahr Zeit, das Urteil umzusetzen. Dazu gehört die Einrichtung eines richterlichen Bereitschaftsdienstes in den Krankenhäusern von 6 bis 21 Uhr. Die Richter am Bundesverfassungsgericht erteilten in ihrem Urteil eine weitere Auflage: Bei Fixierungen müssen die Patienten permanent von Pflegern oder Therapeuten betreut werden. Die Maßnahmen können damit nicht länger getroffen werden, um Personalengpässe zu überbrücken. „Das ist eine große Herausforderung für Kliniken, das ist keine Frage“, erklärte DGPPN-Präsident Deister am Dienstag im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“. Denn es wird mehr Fachpersonal notwendig sein. Die Fachgesellschaft setzte am Dienstag zum Urteil eine Leitlinie in Kraft. Diese beschreibt, wie Zwangsmaßnahmen vermieden werden können.
Die Reaktionen: Das Urteil wurde durchweg positiv aufgenommen. „Das sehen wir als händelbar aus klinischer Sicht. Und dass das auch hinterher von Gerichten überprüft wird, ist für uns selbstverständlich“, sagte etwa Baden-Württembergs Sozialminister Manfred Lucha (Grüne). „Da hätten wir auch selber draufkommen können.“Auch die DGPPN zeigte sich zufrieden: „Die Selbstbestimmungsrechte der Patienten werden gestärkt, das war notwendig“, so Präsident Deister.