Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Die klugen Kleinen in Knallgelb
Pflichtlektüre: Seit 150 Jahren gibt es die Universal-Bibliothek des Reclam-Verlags
Mag der Inhalt auch noch so gewichtig sein, zum Repräsentieren in imposanten Regalen ist diese Bibliothek nicht geeignet. ReclamHeftchen, diese Träger unserer Schulweisheit, sind gerade mal ein paar Millimeter dick, einfarbig schmucklos gestaltet und nicht größer als zehn mal 15 Zentimeter. Ich besaß Hunderte davon aus meiner Jugendzeit, irgendwie beige und grässlich gelb – in Klassenzimmern und Hörsälen verknickt, bekritzelt, bemalt. Beim letzten Umzug landeten sie im Altpapier, ich wollte nur schön gestaltete Bücher behalten. Zum Glück habe ich eine ordentliche Schwester, die ihre in selbstklebende Klarsichtfolie eingeschlagenen Reclams seit den 1960er-Jahren knitterfrei in Ehren hält. Diese Hefte sind nun meine Studienobjekte zur Würdigung einer 150-jährigen Erfolgsgeschichte. Slogan: „Gehasst. Geliebt. Gelesen!“
Tatsächlich hat sich keine andere Buchreihe im deutschen Verlagswesen so zäh gehalten wie die „Universal-Bibliothek“, die im November 1867 von dem gewitzten Leipziger Verleger Anton Philipp Reclam (1807-1896) in die Welt gesetzt wurde. Damals war eine Änderung der Urheberrechtsregelung in Kraft getreten, wonach das Werk eines Autors nicht länger als 30 Jahre nach seinem Tod geschützt blieb. Das
hieß: Die Schriften etlicher Dichter und Denker konnten ohne Tantiemen nachgedruckt und deshalb günstig auf den Markt gebracht werden. Die Nummer 1 der Universal-Bibliothek – damals noch mit einer Schnörkelsäule auf dem Umschlag – war Reclams persönlich bevorzugter Quell der Erbauung: Goethes „Faust“. Nur zwei Silbergroschen, etwa 20 Pfennig, kostete das Büchlein und war damit auch für Arbeiter und Kleinbürgerfamilien erschwinglich.
Sie alle lasen nun die freigeistige Tragödie vom Gelehrten, der seine Seele dem Teufel verkauft, um endlich das Leben zu spüren.
„Habe nun, ach! Philosophie, / Juristerei und Medizin, / Und leider auch Theologie / Durchaus studiert, mit heißem Bemühn“
– so seufzte es dank Reclam in Schul- und Wohnstuben. Bis zum heutigen Tag hat Reclam den Faust nicht weniger als 4,9 Millionen Mal verkauft. Das ist Platz 2 auf der ewigen Reclam-Bestsellerliste, nur überragt von Schillers Freiheitsdrama „Wilhelm Tell“mit einer verkauften Auflage von 5,4 Millionen. „Reclam glaubte an die Nachfrage, den Hunger der breiten Massen des deutschen Volkes nach dem Guten, nach Wissen, Bildung, Schönheit oder doch geistig anständiger Unterhaltung“, stellte Nobelpreisträger Thomas Mann schon 1928 in einer Festrede zum damals 100-jährigen Bestehen des Verlags fest, „und dieser Glaube, mit Vorsicht erworben, mit Vorsicht bestätigt, wurde nicht enttäuscht.“
In der Tat: Rund 600 Millionen ReclamHeftchen wurden im Laufe der Zeit gedruckt, und ein Ende ist nicht in Sicht. Die aktuelle Universal-Bibliothek umfasst etwa 3000 Titel von Adorno bis Zuckmayer – wobei neben Philosophen und Erzählern auch Opernlibrettisten und Juristen bei Reclam zur Geltung kommen. So ein Heftchen passt wie ein Smartphone in jede Jackentasche – und es gewährt uns Bildung auf einen Blick, ganz ohne Internet. „Emporlesen statt Downloaden“hat das der Kommunikationswissenschaftler Walter Hömberg genannt.
Nach wie vor wird brav gelesen, was Reclam schon vor 150 Jahren druckte: Lessings „Nathan der Weise“mit der in zahllosen Aufsätzen erörterten Ring-Parabel, Shakespeares „Romeo und Julia“und sogar der Tragödie schwierigerer Teil, Goethes „Faust II“. Beim Pfuschen allerdings wird der schnelle digitale Zugang zum Text und seiner Bedeutung heutzutage geschätzt.
Der alte Philipp Reclam konnte von der technischen Revolution noch nicht das Geringste ahnen. Aber er war zu seiner Zeit keineswegs ein Feind des Fortschritts. Schließlich verfügte er über modernen Rotationsdruck für seine großen Auflagen. Und sein Sohn Hans Heinrich Reclam, der nächste Chef, genierte sich nicht, die hehre Literatur wie Limonade in 2000 Automaten anzubieten, die er 1912 an Bahnhöfen, auf Schiffen, in Krankenhäusern und Kasernen aufstellen ließ. Auf diese Weise ließ sich, so der zeitgenössische Reklametext,
„jedem Freund guter Bücher der Genuß gehaltvoller Lektüre auf Reisen und für Stunden flüchtiger Unterhaltung bequem und billig vermitteln“.
Nach Hans Heinrichs Tod 1920 nahmen die Enkel Hans-Emil und Ernst Reclam auch zeitgenössische Autoren in die Universal-Bibliothek auf: Franz Werfel, Stefan Zweig, Thomas Mann. Unter der Fuchtel der Nazi-Kulturpolitik wurden allerdings zahlreiche fortschrittliche und insbesondere jüdische Autoren aus dem Programm gestrichen. Der Verlag fügte sich – und machte im Zweiten Weltkrieg kein schlechtes Geschäft mit Kisten voller Reclam-Hefte für die Soldaten an der Front.
Nach 1945 versuchte Verlagschef Ernst Reclam zunächst, den Standort Leipzig zu halten, zog aber nach Teilenteignungen durch die sowjetische Besatzung 1947 in den Westen, um sich in Stuttgart ganz neu niederzulassen. Während Reclam Ost in den 1950er-Jahren unter Verlagsleiter Hans Marquardt die Grenzen des Erlaubten austestete, erlebte das Familienunternehmen sein Wirtschaftswunder im Schwabenland.
So kam Gottfried Kellers lehrreiche Novelle „Kleider machen Leute“aus Stuttgart zu den westdeutschen Quartanern der 1960er-Jahre.
„An einem unfreundlichen Novembertage wanderte ein armes Schneiderlein auf der Landstraße nach Goldach ...“
Erinnern Sie sich? Dank der ordnungsgemäßen Anmerkungen hinten im Reclam-Heft weiß ich bis heute, dass Marchand-Tailleur die vornehme Bezeichnung für einen Tuchhändler und Schneider ist. Mon dieu! Weniger fein drückte sich Kleist in seinem Lustspiel „Der zerbrochene Krug“aus, aber wir liebten es, in der Klasse mit Betonung und verteilten Rollen vorzulesen:
„Ei, was zum Henker, sagt, Gevatter Adam! Was ist mit Euch geschehn?“
Richter Adams Geschick war für meine Generation noch in einem unauffälligen Elfenbeinton gebunden. Seit 1970 – die Zeiten waren wilder geworden – leuchten die ReclamHefte in grellem Gelb, wobei die Nuancen, wie der Verlag mitteilt, von Zitrone über Eidotter zu Butterblume wechselten. Nun ja, auf jeden Fall ist das Reclam-Gelb in keiner Buchhandlung zu übersehen. Ergänzt wird es durch Orange für zweisprachige Ausgaben, Rot für fremdsprachige Texte (mit Vokabelhilfe), Blau für Lehrer-Lektüreschlüssel, Magenta für gewisse Sachbücher und Grün für Erläuterungen und Dokumente zur Primärliteratur. In der Oberstufe quälte man sich mithilfe von Kurt Rothmanns erläuterndem ReclamBand (grün) durch die historischbiografischen Grundlagen, die Variationen und Wirkungen von Goethes tragischem Jugendroman „Die Leiden des jungen Werthers“. Ach je! Mit Bleistift unterstrichene Zeilen und mit Klammern gekennzeichnete Absätze zeugen tausendfach von fleißiger, nicht immer freiwilliger Lektüre.
Zerlesen und markiert
Für Ulrich von Bülow, den Leiter des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, sind gerade solche Gebrauchsspuren für die Forschung am Reclam-Heft interessant: „Im Gegensatz zu anderen Büchern sind viele Reclam-Hefte mit Markierungen und Notizen versehen, manche regelrecht zerlesen.“Auch viele Schriftsteller oder Philosophen, deren Werk irgendwann in Marbach untersucht wird, hatten, so von Bülow zur Deutschen Presse-Agentur, „in ihrer lektüredurstigen Frühzeit wenig Geld“und griffen gern zu Reclam-Heften.
Persönlich hat der Hüter der deutschen Literatur ein ganz besonderes Verhältnis zur Universal-Bibliothek. Als er nach dem Mauerfall 1989 aus der DDR herüber in den Westen kam, kaufte er sich vom Begrüßungsgeld in Berlin erst einmal ein Reclam-Büchlein: Odo Marquards philosophischen „Abschied vom Prinzipiellen“. Gibt es heute immer noch in der Universal-Bibliothek. Für 4,40 Euro. Klein, klug, knallgelb.