Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Suche nach der Nadel im Heuhaufen
Ein „Erstcheck“hilft Bibliotheken bei der Suche nach NS-Raubgut
WERNIGERODE (dpa) - Diana Richter sucht die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen. Und das Problem ist: Sie weiß noch nicht einmal, ob es überhaupt eine gibt. Genauso gut könnten es auch viele sein. Die fast 36-jährige Historikerin brütet zweimal pro Woche in der Harzbücherei in Wernigerode über Akten und sucht nach Hinweisen auf Bücher und Zeitschriften, die die Nationalsozialisten den ursprünglichen Besitzern weggenommen haben – Juden, Freimaurern, Vereinen der SPD und KPD. Rund 30 000 Bände über den Harz umfasst der Bestand. Es sind viele aus dem 19. Jahrhundert dabei, aber auch aus dem 16. Jahrhundert. Ob sie rechtmäßig hier stehen, soll Richter herausfinden – im Rahmen eines bundesweit einmaligen Projekts, das kleinen Bibliotheken bei der Provenienzrecherche hilft.
Viele Museen und Bibliotheken forschen in ihren Beständen nach NS-Raubgut. Aber je kleiner die Häuser sind, desto weniger Kapazitäten haben sie für diese Suche. Die Deutsche Stiftung Kulturgutverluste mit Sitz in Magdeburg unterstützt nun insbesondere kleine Bibliotheken mit einem sogenannten Erstcheck. „Hinter den Büchern steht in der Regel zwar kein so hoher materieller Wert wie bei Kunstwerken. Dennoch verbirgt sich hinter jedem geraubten Buch ein menschliches Schicksal“, betont eine Stiftungssprecherin.
Sachsen-Anhalt ist der Vorreiter. In fünf Bibliotheken mit alten Beständen von Dessau über Zerbst bis eben in den Harz sind Forscher unterwegs, um vorzufühlen und den Forschungsbedarf auszuloten. „Wir wünschen uns, dass dies auch auf andere Bundesländer ausstrahlt“, sagt die Sprecherin.
Demonstrativ holt Historikerin Richter in der Bibliothek ein schmales Buch aus dem riesigen Bücherregal. Vorsichtig öffnet sie den Buchdeckel. Ihr geschulter Blick fällt auf einen roten „ex libris“-Stempel eines ehemaligen Besitzers. Eine Seite weiter finden sich weitere Stempel eines Buchsammlers und der Harzbücherei. Wann und wie das schmale Buch in die Bibliothek gekommen ist, kann niemand genau sagen. „Das Eingangsbuch wurde erst ab 1950 geführt“, sagt Richter. So steht es um sehr viele Bände hier in Wernigerode. Die Forscherin sagt aber ganz klar: „Wenn nichts anderes mehr geht, nehme ich jedes Buch in die Hand.“
Erst einmal versucht sie es über Unterlagen, wie die Korrespondenz des Harzgeschichtsvereins – ehemaliger Eigentümer der Harz-Bücher. Die Akten aus dem Jahr 1937 hat Richter schon durchgearbeitet, gerade hat sie sich das prägende Jahr 1938 vorgenommen – Juden mussten ihren Besitz melden, wurden enteignet. Am 9. November mündete die Verfolgung in der Pogromnacht. Historikerin Richter versucht, Hinweise auf Bücher oder Bestände zu finden, die in dieser Zeit die Sammlung erreicht haben. So hätte sie einen konkreten Ansatz, um entscheidende Bände in die Hand zu nehmen und genauer nach ihrer Herkunft zu forschen. Listen mit den damals in der Region lebenden Juden hat Richter für Abgleiche schon parat – früher war es üblich, Bücher mit Stempeln oder Namenszügen zu kennzeichnen.
„Wir sind angefragt worden und haben sofort Ja gesagt“, sagt der Leiter der Bibliothek, Olaf Ahrens über
„Hinter jedem geraubten Buch verbirgt sich ein menschliches Schicksal.“Diana Richter, Historikerin
das Erstcheck-Projekt. Zum Einen gehe es um die moralische Frage, die Objekte auf ihre Herkunft hin zu untersuchen und gegebenenfalls an die rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben – so diese Interesse haben. Zum Zweiten gehe es um mehr wissenschaftliche Erkenntnisse zum Bestand und auch zur Geschichte des Ortes. Positiv für Ahrens ist auch: „Es entstehen ja keine Kosten für uns als Bibliothek.“
Die Deutsche Stiftung Kulturgutverluste fördert das Projekt nach eigenen Angaben mit 15 000 Euro. Drei Forscher sind dafür in den fünf Bibliotheken unterwegs. Für Historikerin Richter, die kurz vor ihrem Master-Abschluss steht, könnte das ein Einstieg in den Bereich der Provenienzrecherche sein. Denn Ende dieses Jahres endet der „Erstcheck“. Wenn dann noch weitere Forschungsarbeit nötig ist, könnte sie sich eine Fortsetzung vorstellen, zumal sich die junge Frau inmitten der Akten und Bücher wohlfühlt: „Ich bin eben eine Bücherfetischistin.“
Internet:
www.kulturgutverluste.de, www.wernigerode.de