Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Hass & Faszination
Schriftsteller Günter Grass und sein Bezug zu Kalkutta
KALKUTTA (dpa) - Nirgendwo in Indien treffen kolonialer Prunk und moderne Armut so brutal aufeinander wie in Kalkutta (heute: Kolkata). Für Günter Grass war dieser Gegensatz schon 1975 prägend. Bis zu seinem Tod verband ihn eine Hassliebe mit der Stadt.
Das „Indian Coffee House“in Kalkutta ist bis heute eine Institution unter den Studenten der Stadt in Indiens Nordosten. Draußen die sogenannte College Street, auf der Händler zu Hunderten Bücher und Schreibmaterial verkaufen. Drinnen ein großer Raum, in dem Deckenventilatoren nur notdürftig gegen die sommerliche Schwüle helfen, und ein hoher Balkon.
Vor mehr als 30 Jahren war dies einer der Orte, die der Schriftsteller Günter Grass mit der indischen Stadt verband, die ihn sehr geprägt hat. „Als wir 1986 zum ersten Mal hierhin kamen, erkannten ihn einige Studenten“, erzählt Subhoranjan Dasgupta. Der indische Journalist war einer der Wegbegleiter von Grass, als dieser sechs Monate lang in der indischen Metropole lebte. „Er musste gleich mehrere Autogramme geben.“
In keiner indischen Stadt verbrachte Grass mehr Zeit als in Kalkutta. Das erste Mal besuchte er sie 1975 als Staatsgast und wohnte in der Residenz des Gouverneurs. Dort schrieb er Teile von „Der Butt“– und entwickelte sein ambivalentes Verhältnis zu der Stadt, die wie kaum eine andere für den Gegensatz zwischen prunkvollem britischen Kolonialismus und moderner Armut steht.
Bis 1912 war sie der Mittelpunkt des britischen Imperiums in Südasien. Noch immer zeugen prunkvolle Bauten wie das Victoria Memorial von dieser Zeit. Gleichzeitig ist das Stadtbild geprägt von Slums und verwinkelten Gassen, in denen halb verfallene Häuser stehen. Immer wieder thematisierte Grass in Interviews diese Gegensätze, kritisierte die Gleichgültigkeit der Oberschicht.
Mir dem Vorortzug in die Stadt
Und immer wieder sprach er seine Bewunderung für die einfachen Einwohner der Stadt aus. In „Der Butt“schrieb er über Kalkutta: „Diese bröckelnde, schorfige, wimmelnde, ih- ren eigenen Kot fressende Stadt, hat sich zur Heiterkeit entschlossen. Sie will, dass ihr Elend […] schrecklich schön ist.“
Seinen wichtigsten Besuch machte er elf Jahre später, als er 1986 und 1987 mit seiner Frau für fast sechs Monate nach Kalkutta zog. Diesmal war er nicht in einem Palast, sondern in einem Vorort und später in einem Familienhaus inmitten der Stadt untergebracht. Fast täglich streifte er insbesondere durch den Norden Kal- kuttas, den ältesten Teil der Stadt, in dem Prunk und Elend am engsten beieinander liegen. Mit überfüllten Vorortzügen pflegte er in die Stadt zu pendeln.
Im Stadtteil Kumartuli endlich findet sich die hundertfache Erklärung für den Titel von Grass’ Kalkutta-Tagebuch von 1988, „Zunge zeigen“. In unzähligen kleinen Werkstätten stehen Tonfiguren der verschiedenen indischen Gottheiten. Am häufigsten taucht die Göttin Kali auf. Fast immer werden Kali-Statuen mit weit herausgestreckter Zunge dargestellt. Die Göttin nimmt im Hinduismus eine herausragende Position ein, sie steht für Zerstörung und Erneuerung gleichermaßen.
Grass verbrachte viel Zeit in Kumartuli. Man könne Kalkutta nur wirklich kennen lernen, wenn man die Hauptstraßen verlasse und die tausend kleinen Gassen besuche, hatte der Autor damals gesagt. Auch heute noch arbeiten in den schmalen Gassen Männer jeden Alters an den Figuren, bauen Strohskelette oder schnitzen mit feinen Werkzeugen Muster in den Ton. Es sind noch viele Wochen bis zum Fest Diwali im Oktober, zu dem die Statuen feierlich im heiligen Ganges versenkt werden. Die Nachfrage wird groß sein, schon jetzt stehen an jeder Ecke in Kumartuli dutzende halbfertige Statuen.