Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Österreich streitet über Pressefreiheit
Missbrauchsopfer fühlen sich von Kirche alleingelassen - Studie bestätigt Details
WIEN (dpa) - Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hat das von der rechtspopulistischen FPÖ geführte Innenministerium kritisiert und sich gegen eine Ausgrenzung bestimmter Medien ausgesprochen. „Jede Einschränkung von Pressefreiheit ist nicht akzeptabel“, sagte Kurz am Dienstag. Zuvor hatten zwei Zeitungen eine E-Mail veröffentlicht, in der das Innenministerium die Polizei vor bestimmten Medien gewarnt hatte. Auch wurde empfohlen, die Zusammenarbeit auf ein Minimum zu beschränken.
FULDA - Wenn Klaus Nadler in diesen Tagen vom massenhaften Missbrauch durch Priester, Diakone und Ordensleute liest, die Statements der Bischöfe im Radio hört oder Fernsehbeiträge anschaut, dann werden in dem 69-Jährigen aus Weingarten schreckliche Erinnerungen wach: „Vor allem an den Mundgeruch des Mannes, der sich über mich beugte und mich in den 60er-Jahren mehrfach sexuell missbraucht hat“, sagt er. Ob im Priesterseminar Collegium Borromäum der Erzdiözese Freiburg oder in Zeltlagern: „Ich wurde durch drei Täter, einen Seminaristen und zwei Priester, angefasst und missbraucht.“Zwei oder drei Jahre dauerte das Martyrium, über das Nadler jahrelang nichts erzählen konnte. Heute zählt er zu den Missbrauchsopfern, die die katholische Kirche anerkannte, auszahlte und dann am liebsten verschwieg. Jedenfalls bisher.
Ein Trauma, das nicht vergeht
Die jetzt vorgelegte MHG-Studie bestätigt, dass Männer wie Klaus Nadler keine Einzelfälle sind: Wie er haben 11,9 Prozent der Betroffenen Ängste auszustehen, 11,8 Prozent leiden unter Depressionen, 8 Prozent haben sexuelle Probleme, heißt es unter der Überschrift „Gesundheitliche Folgen“. 12,9 Prozent der Betroffenen geben an, soziale Folgen in Beziehung oder Partnerschaft zu erleben. 10,4 Prozent spüren die Folgen der Taten im Sexualleben, 8,3 Prozent im Arbeitsleben 7,9 Prozent bei gesellschaftlicher Teilhabe, wie Projektkoordinator Harald Dreßing vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim sagt. Klaus Nadler bestätigt ihn: „Freunde habe ich schon lange nicht mehr.“
Für Klaus Nadler, der sich als Opfer fühlt, sind diese Entwicklungen nicht relevant. Er lebt in der Erinnerung: Der gelernte Zahntechniker, gehört zu jener Nachkriegsgeneration, in der die katholische Welt den Alltag wie auch den Sonntag ordnete: „Ich war Ministrant und beim Kolping aktiv, wie das in den 60er-Jahren so üblich war.“Gruppenstunden, Ferienlager, Gottesdienste, Ausflüge über das Wochenende: „Ich habe das ganze Programm erlebt.“Dass körperliche Nähe, Übergriffe, gemeinsame Schlafzimmer und gemeinsames Duschen eben nicht zum „ganzen Programm“hätten gehören dürfen, war den Beteiligten klar: „Die Priester verpflichteten uns ja dazu, nichts zu erzählen.“
Jahrzehntelang schwieg Nadler. Er gründete eine Familie, wurde Vater. Doch die Erlebnisse schwelten in ihm. Irgendwann zerbrach die Ehe, Frau und Kinder zogen aus. Nadler wurde arbeitsunfähig, musste in Frührente gehen: mit 48 Jahren. „Und als im Jahr 2010 die Aufdeckung des Missbrauchsskandals am Berliner Canisius-Kolleg ins Rollen kam, brach alles wieder in mir auf.“
Das Erzbistum Freiburg hat Nadler als Missbrauchsopfer schon im Jahr 2011 anerkannt: 5000 Euro wurden ausbezahlt, dazu gab es ein paar formelle Briefe. Mehr nicht. Unklar ist auch nach dem gestrigen Tag, ob sich Opfer wie Nadler erneut und dann mit Aussicht auf Gespräche, Therapie oder Übernahme weiterer Kosten an die Kirchen wenden können. Persönlich konnte Nadler sich fangen: Er lebt in einer neuen Beziehung, fand wieder Halt. Ähnlich wie Nadler wartet auch Ludwig Zimmermann aus Mochenwangen im Landkreis Ravensburg auf Konsequenzen aus der Missbrauchs-Studie: Der 80-jährige pensionierte ehemalige Lehrer fühlt sich ebenfalls als Opfer. Denn Ende der 80er-Jahre kam ein Pfarrer ins schwäbische Oberland, der bei Zimmermann schnell Fragen aufwarf: „Er kapselte sich ab, durfte aus uns nicht bekannten Gründen keinen Religionsunterricht geben, nahm Ministranten mit in seine Wohnung und seine Predigten waren Hilferufe.“Zimmermann war seinerzeit im Kirchengemeinderat, „ich bestimmte das Geschehen mit“, erinnert er sich. Er wandte sich mit seinen Fragen ans Bischöfliche Ordinariat in Rottenburg – und geriet selbst in die Schusslinie: „Wer im schwäbischen Oberland etwas gegen den Pfarrer sagt, hat schnell drei Viertel der Leute gegen sich.“Zimmermann galt fortan als Quertreiber. Und bekam keinerlei Informationen: „Erst viel später erfuhr ich, dass unser Pfarrer 1977 und 1981, als er noch kein Priester war, zwei Buben missbraucht haben soll. Und dass dies der Diözese bekannt war.“
Täter wurde nur versetzt
Die Diözese Rottenburg-Stuttgart reagierte schließlich doch – und schob den Mann, wie es damals üblich war, ab: Der Geistliche erhielt nacheinander zwei Stellen im Ausland. Auch diese Vorgehensweise sei typisch, bestätigt Studien-Projektkoordinator Harald Dreßing: „Überdurchschnittlich viele Diözesanpriester mit Beschuldigung wurden in andere Diözesen versetzt.“Über die Biographie und die Anschuldigungen erfuhren die Gläubigen an den neuen Wirkungsstätten nichts. Erst 2010, als jener Priester bereits eine neue Pfarrstelle im Schwarzwald übernommen hatte und der Missbrauchsskandal öffentlich geworden war, kam das berufliche Aus für den damals 56-Jährigen. Zuvor waren weitere Fälle aus den Jahren 1987 bis 1990, von denen einer der Kirchenleitung im Jahr 2004 bekannt geworden war, ans Tageslicht gekommen. „Seither ist er frei gestellt und darf auch nicht mehr als Priester tätig werden“, bestätigt eine Sprecherin der Diözese.
Doch in Mochenwangen wartet Ludwig Zimmermann, der den Skandal seinerzeit aufdeckte, immer noch auf einen Anruf oder einen Brief aus dem Bischöflichen Ordinariat: „Die Diözese hat uns allein gelassen.“Seine Frau rät ihm immer wieder, sich nicht mehr mit dem Fall zu beschäftigen: „Doch das kann ich nicht, der Missbrauch lässt mich nicht mehr los.“