Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Dem Verbrechen auf der Spur
Eine Nachtschicht mit dem Kriminaldauerdienst in Singen
SINGEN/RADOLFZELL - Überall liegen Scherben. Im Schaufenster des Geschäfts in Radolfzell klafft ein mannshohes Loch. Der fußballgroße Steinbrocken, der gegen 3.30 Uhr die Scheibe durchschlagen hat, liegt neben dem Tresen. Ein Beamter des Kriminaldauerdienstes macht Fotos vom Tatort. Im Blitzlicht leuchten zwischen den Glassplittern Geldmünzen auf. Der Täter hat bei seiner Flucht einen Teil seiner Beute verloren. Der Kriminaldauerdienst macht sich an die Arbeit – für die Dauer einer Nachtschicht hat die „Schwäbische Zeitung“ein Team in Singen begleitet.
Kriminaldauerdienst – der Name verrät es schon. Es ist immer jemand auf der Wache. Rund um die Uhr. Kriminalhauptkommissarin und Dienstgruppenleiterin Alexandra Herbstrith spricht von der „Feuerwehr“der Kriminalpolizei. Das heißt, der Kriminaldauerdienst, kurz KDD, übernimmt alle Sofortmaßnahmen in Fällen, für die die Kriminalpolizei zuständig ist: erste Ermittlungen, Zeugenvernehmung und Spurensicherung bei Tötungsdelikten, Sexualdelikten, Bränden oder Raub. Nach dem „ersten Angriff“sind die Fälle für die Beamten in der Regel erledigt, die weiteren Ermittlungen übernimmt die Kriminalpolizeidirektion.
Am Tatort in Radolfzell misst Alexandra Herbstrith den Umfang des Lochs in der Scheibe. Alles wird notiert, um später rekonstruieren zu können, wie der Tatort ausgesehen hat. Ein Kollege sammelt währenddessen das verlorene Münzgeld auf und verpackt es in einen Asservatenbeutel. Jeder Handgriff wird mit Handschuhen ausgeführt – die Spuren des Täters dürfen nicht verwischt werden oder sich mit der DNA der Ermittler mischen.
Der Räuber hinterlässt Spuren
Zwischen den Münzen und den Glasscheiben finden die Beamten einen Hinweis: Mehrere bunte Perlen liegen verstreut auf dem Boden. „Vielleicht ist die Kette des Täters bei der Flucht gerissen“, vermutet Herbstrith. Außerdem liegt eine Schildmütze auf dem Ladenboden; die Beamten hoffen auf DNA-Spuren des gesuchten Mannes.
Für die Spurensicherung steht dem KDD eine ganze Reihe an Werkzeugen zur Verfügung. Spezielles Pulver, mit einem Pinsel aufgetragen, macht Fingerabdrücke sichtbar. Fuß- oder Reifenspuren in der Erde können mit Gips abgegossen und so noch lange nach dem nächsten Regenschauer untersucht werden. Um die DNA an der Mütze zu sichern, benutzen die Beamten ein Klebeband, das sich optisch nicht von einer gewöhnlichen Tesa-Rolle unterscheidet. Im Gegensatz zum Büromaterial ist die Oberfläche der Polizeivariante aber keimfrei. Sobald der Film also von der Mütze wieder abgezogen wird, sollte sich nur die DNA des Täters daran befinden. Doch trotz der eigentlich guten Spurenlage, bleibt der Täter ein Phantom. Die Polizei fahndet noch am selben Tag nach einem Mann zwischen 15 und 20 Jahren, der von Zeugen als „südländisch aussehend“beschrieben wird. Bis zum Druckbeginn dieses Texts jedoch ohne Erfolg.
Anders als im „Tatort“ist der Täter in der Realität nicht nach 90 Minuten ermittelt. Und auch sonst hat der Alltag der Kriminalbeamten wenig mit einem Fernsehkrimi zu tun. Kein Kriminaltechniker, der sich kurz neben die Leiche kniet und Dinge sagt wie: „Er wurde offensichtlich vergiftet und ist seit zwei Stunden tot.“Der Grund: „Wir sind zwar in der Regel als Erste am Tatort. Festzustellen, wie lange jemand tot ist, das ist allerdings Aufgabe der Rechtsmedizin“, sagt Herbstrith. Was ist mit Verfolgungsjagden? „Die gibt es zwar, aber eher selten.“Wilde Alleingänge? „Nein, wir achten darauf, immer zu zweit unterwegs zu sein.“Und was ist dran an der Verhörstrategie Guter-Cop-Böser-Cop? „Nicht, dass ich sie gelernt hätte. Aber manchmal funktioniert es schon“, sagt die Kriminalhauptkommissarin und lacht.
In dieser Nacht zumindest kommt besagte Verhörstrategie nicht zum Einsatz. Schon zu Beginn ihrer Nachtschicht haben die Beamten zwei Jugendliche auf dem Radolfzeller Revier vernommen. Am Nachmittag hat sich, der Aussage des jugendlichen Opfers zufolge, ein schwerer Raub abgespielt. In dem Glauben, ein bisschen mit Bekannten in der Gegend herumzufahren, sei er zu drei etwa Gleichaltrigen ins Auto gestiegen. Die Fahrt führte allerdings in ein Waldstück, wo der Geschädigte plötzlich ein Messer am Bauch hatte und sein Handy herausgeben musste. Und weil das den vermeintlichen Freunden noch nicht genug war, fuhren sie den Geschädigten nach Hause, wo dieser noch einen teuren Lautsprecher herausrücken sollte. Dort verbarrikadierte sich der Jugendliche jedoch und rief die Polizei. Zwei der mutmaßlichen Mittäter stellen sich am Abend in Radolfzell, der Haupttäter, der das Messer gezückt haben soll, bleibt allerdings verschwunden.
In Maleranzügen sitzen die Jugendlichen, beide noch deutlich unter 20, nacheinander in einem kleinen Raum. Ihre Kleidung liegt sorgsam verpackt in Asservatenbeuteln. Es müssen Spuren gesichert werden. Auch das Auto wird sichergestellt und bleibt erst einmal auf der Wache, bis jeder Zentimeter nach DNA und anderen Spuren abgesucht worden ist. Was die Jungs erzählen, wiederholt ein Beamter in ein Diktiergerät. Jedes Detail der Tat wird beleuchtet: Wer war dabei? Woher kennt ihr euch? Wer saß wo im Auto? Wer hat was wann gesagt? „Ich stech’ dich ab, ich schwör’“, soll der vermeintliche Haupttäter gedroht haben, als er dem Opfer das Messer an den Bauch hielt.
Es ist keine Kleinigkeit, weswegen die Jugendlichen auf der Wache sitzen. Auf Raub stehen fünf bis zehn Jahre Gefängnis. Mit gefalteten Händen und gesenktem Kopf hören sich die Jugendlichen an, was ihnen blühen könnte. So kleinlaut und schüchtern wirken die beiden, dass es schwer vorstellbar ist, dass sie am Nachmittag einem Gleichaltrigen so übel mitgespielt haben sollen.
Alltag für Alexandra Herbstrith und ihre Kollegen. Aber nichts, was ihr die Freude an ihrem Beruf verdirbt, den sie vor 22 Jahren ergriffen hat. Schon ihr Vater war Polizist, erzählt sie. „Ich glaube, dieses klischeehafte ,den Menschen helfen können‘ hat mich dazu gebracht, auch zur Polizei zu gehen.“Dasselbe Motiv steht hinter ihrer Entscheidung, beim KDD zu arbeiten: Geschädigten beizustehen.
Oftmals sind die Beamten dabei mit starken psychischen Belastungen konfrontiert. „Ein großer Teil unserer Arbeit sind Todesfallermittlungen“, erzählt Herbstrith. Sie und ihr Team waren beispielsweise im Einsatz, als sich im Juni ein Mann in der Marienschlucht bei Konstanz das Leben genommen hat. Auch in solchen Fällen übernimmt der KDD die ersten Ermittlungen und die Spurensicherung. „Wenn es möglich ist, entkleiden wir die Leiche gleich am Fundort und dokumentieren beispielsweise Verletzungen“, erklärt die Kriminalhauptkommissarin. Keine Arbeit für empfindliche Gemüter. „Hängen bleiben aber vor allem Todesfälle mit Kindern“, sagt sie.
Was helfe, sei das Reden im Kollegenkreis. Wenn nötig, stehen den Beamten auch Krisenberater zur Seite. Auch auf das Sozialleben wirkt sich die Arbeit aus. „Wochenenden, Feiertage – da kann der Schichtdienst keine Rücksicht nehmen“, bestätigt Herbtsrith. Fünf verschiedene Dienstgruppen gibt es, die sich abwechseln. Eine arbeitet an einem Tag im Spätdienst, am nächsten Tag im Frühdienst und am selben Tag im Nachtdienst. Dann folgen zwei Tage ohne Schichtdienst. Weil die Beamten so aber nicht auf eine 41-StundenWoche kommen, müssen in der Regel noch Zusatzdienste geleistet werden. Die Arbeit im Kriminaldauerdienst ist für viele der Einstieg bei der Kriminalpolizei. Nach der Ausbildung, die alle Polizisten durchlaufen müssen, etwa in Einsatztaktik und Kriminaltechnik, gehört zur Weiterbildung für den KDD unter anderem auch die Spezialisierung in der Spurensicherung. In dieser Nachtschicht haben die Beamten schon gesichert, was zu sichern war. Die Kleider der Jugendlichen und das Auto.
DNA-Proben und Fingerabdrücke
Nach dem Verhör müssen die Verdächtigen noch erkennungsdienstlich erfasst werden. Die mit schwarzer Tinte gefärbten Finger der Jungs drücken die Beamten auf ein Blatt Papier. Im System wird alles vermerkt, was die Jugendlichen äußerlich identifizieren könnte. Augenfarbe, Größe, Gewicht, Haarfarbe, Auffälligkeiten wie Narben oder Muttermale. Auch eine DNA-Probe nehmen die Beamten. Das Wattestäbchen gleitet sorgfältig über die Innenseite der Backe und wandert anschließend in ein Plastikröhrchen. Zum Schluss werden Fotos gemacht. Erst von vorn, dann von der Seite, dann von hinten. Wie im Film.
Die Maßnahmen dauern etwa drei Stunden, dann können die Jungs wieder gehen. Im Flur warten die Mütter. „Können wir ein Taxi rufen?“, fragt einer der beiden, nachdem die Beamten ihn entlassen. In dem Maleranzug, auf dem groß „Polizei“auf dem Rücken prangt, will er nicht auf die Straße. „Vergiss es, du läufst so nach Hause“, lautet die Antwort der Mutter.
Auch die Beamten verlassen die Wache in Radolfzell und fahren zurück nach Singen. Es ist schon nach Mitternacht. Auf dem Revier wartet Schreibtischarbeit. „Wir arbeiten EMails ab oder schreiben ältere Fälle“, zählt Alexandra Herbstrith auf. „Bis eben der nächste Einsatz kommt und wir wieder rausfahren.“Lange müssen sie in dieser Nacht nicht warten. Gegen 3.30 Uhr kracht ein fußballgroßer Stein durch eine Fensterscheibe.
„Ich glaube, dieses klischeehafte ,den Menschen helfen können‘ hat mich dazu gebracht, auch zur Polizei zu gehen.“
Alexandra Herbstrith, Kriminalhauptkommissarin
„Ein großer Teil unserer Arbeit sind Todesfallermittlungen. Hängen bleiben vor allem Todesfälle mit Kindern.“
Alexandra Herbstrith, Kriminalhauptkommissarin