Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Kanzlerin Merkel macht weiter
CDU-Vorsitzende würde bei Neuwahlen wieder kandidieren – Kritik an FDP-Chef Lindner
- Am Tag nachdem FDP-Chef Christian Lindner die Jamaika-Sondierungen einseitig beendet hat, sieht Bundeskanzlerin Angela Merkel keinen Anlass für einen Rückzug. Falls es zu Neuwahlen kommen sollte, sei sie bereit, ihre Partei erneut in den Wahlkampf zu führen, sagte die CDU-Vorsitzende am Montagabend in der ARD. Eine Minderheitsregierung wollte Merkel nicht gänzlich ausschließen, „aber ich bin sehr skeptisch und glaube, dass dann Neuwahlen der bessere Weg wären“.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier rief alle Parteien – und somit auch die SPD – jedoch zu einem neuen Anlauf für eine Regierungsbildung auf. „Wer sich in Wahlen um politische Verantwortung bewirbt, der darf sich nicht drücken, wenn man sie in den Händen hält.“Alle Beteiligten sollten „noch einmal innehalten und ihre Haltung über- denken“, forderte Steinmeier. Der SPD-Vorsitzende Martin Schulz bekräftigte dennoch sein Nein zu einer Neuauflage der Großen Koalition. Wie es nun in Berlin weitergeht, ist offen. Die FDP hatte die Jamaika-Sondierungen mit Union und Grünen am späten Sonntagabend überraschend abgebrochen und Merkel damit in die schwerste Krise ihrer zwölfjährigen Amtszeit gestürzt.
Gleichwohl versicherte die Kanzlerin am Montag, sie habe in dieser Situation nicht an Rücktritt gedacht: „Nein, das stand nicht im Raum. Ich glaube, Deutschland braucht nun Stabilität“, sagte die 63-Jährige. Auf die Frage, ob sie persönlich in den Gesprächen mit CSU, FDP und Grünen Fehler gemacht habe, antwortete Merkel mit Nein. „Ich habe das getan, was ich konnte, und wie gesagt, wir waren auch wirklich vorangekommen.“ Merkel ließ zudem erkennen, dass eine Große Koalition für sie noch nicht ganz abgehakt ist. Ob sie auf die SPD noch einmal zugehen werde, hänge vom Ergebnis der geplanten Gespräche zwischen Steinmeier und der SPD ab. Merkel sagte, Steinmeier habe nun das Heft des Handelns in der Hand. In der CDU setzt man darauf, dass der frühere SPD-Außenminister Einfluss auf SPD-Chef Schulz hat. Die Unions-Parteien wollen in den nächsten Tagen über das weitere Vorgehen beraten. CSUChef Horst Seehofer, der sich am Donnerstag zu seiner persönlichen Zukunft äußern möchte, begrüßte Merkels Ankündigung, die Union im Fall von Neuwahlen erneut in den Wahlkampf zu führen. Die CDU-Chefin habe seine Unterstützung. Massive Kritik mussten die Liberalen und ihr Parteivor- sitzender einstecken. Winfried Hermann, der grüne Verkehrsminister von Baden-Württemberg, gab Lindner persönlich die Schuld am Scheitern. „Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass FDP-Chef Lindner auf das Scheitern der Verhandlungen hingearbeitet hat“, sagte er der „Schwäbischen Zeitung“. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) erklärte: „Ich bin weiterhin der Meinung, dass wir eine Bundesregierung hätten bilden können, wenn der Wille bei allen wirklich vorhanden gewesen wäre. Ich bin fassungslos, dass die FDP die Sondierungen abgebrochen hat.“Ähnlich klang Unions-Fraktionschef Volker Kauder: „Wir waren kurz vor dem Durchbruch zu wirklich guten Lösungen, die dem Land in schwieriger Zeit auch genutzt hätten.“
Lindner selbst verteidigte seinen Schritt. „Wir haben viele Kompromisse gemacht, aber wir wollen unseren Ideen und unseren Wählern treu bleiben“, sagte er am Montag.
STUTTGART - Erinnerungen an die Zeit nach der Landtagswahl 2016 werden wach: Wie damals verweigert sich die FDP nun auch auf Bundesebene einer Regierungskoalition wegen mangelnden Vertrauens. Das Scheitern der Jamaika-Sondierung habe indes keinen Einfluss auf das grün-schwarze Regierungsbündnis in Stuttgart, beteuern Politiker von CDU und Grünen im Land.
„Eine Koalition muss eine faire Kooperation bedeuten, und dieses Vertrauen hatte ich nach der Landtagswahl in Winfried Kretschmann und Nils Schmid nicht,“– so hatte Hans-Ulrich Rülke der „Schwäbischen Zeitung“im Sommer erklärt, warum er als Fraktionschef nach der Landtagswahl im März 2016 so schnell Nein zu einer Ampel-Koalition gesagt hatte. Sein Bundesparteichef Christian Lindner hat über Wochen mit CDU, CSU und den Grünen in Berlin verhandelt, aber mit dem selbem Resultat. „Es hat sich gezeigt, dass die vier Gesprächspartner [...] vor allen Dingen keine gemeinsame Vertrauensbasis entwickeln konnten“, so Lindner in der Nacht auf Montag.
Die Grünen im Land nehmen Lindner das übel. „Nach BadenWürttemberg und Niedersachsen verweigert sich die FDP ein drittes Mal einer Regierungsbildung“, teilen die Landesvorsitzenden Sandra Detzer und Oliver Hildenbrand mit. „Damit hat Verantwortungslosigkeit ei- nen neuen Namen: FDP. Sie handelt nach dem Motto: Lindner first. Land second.“Andreas Schwarz, Fraktionschef im Südwest-Landtag, ergänzt: „Noch im Wahlkampf titelte die FDP staatstragend ,Es geht um unser Land’. Offensichtlich hat die FDP den Ernst der Lage nicht verstanden.“
Auch der grüne Verkehrsminister von Baden-Württemberg, Winfried Hermann, gibt Lindner persönlich die Schuld am Scheitern. „Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass FDP-Chef Lindner auf das Scheitern der Verhandlungen hingearbeitet hat“, sagt der Parteilinke der „Schwäbischen Zeitung“. „Es sei denn, die anderen Parteien würden nach seiner Pfeife tanzen, so wie das seine eigene Partei offenkundig bereits tut.“Sein Partei- und Kabinettskollege Manfred Lucha aus Ravensburg spricht von der FDP als einer „One-Man-Show“und kritisiert: „Die FDP hat sich billig vom Acker geschlichen.“
Sorge um Zulauf für Populisten
Für Ministerpräsident Winfried Kretschmann, der auch Teil der grünen Sondierungskommission war, ist die gescheiterte Regierungsbildung ein Schlag, wie er sagt. „Deutschland droht jetzt, mit einer kommissarischen Regierung über viele Monate, in eine schwierige Lage zu geraten. Wir müssen alle dafür sorgen, dass Rechtspopulisten in unserem Land keinen weiteren Zulauf bekommen.“Sozial- und Integrationsminister Lucha, der in den eigenen Reihen gerne als „Minister für den sozialen Zusammenhalt“bezeichnet wird, glaubt an die Kraft des grün-schwarzen Bündnisses in Stuttgart. „CDU und Grüne haben eindrücklich bewiesen, dass sie bereit sind, zum Wohle der Gesellschaft Kompromisse zu machen und aufeinander zuzugehen. Dies gilt auch weiterhin.“
Justizminister Guido Wolf (CDU) pflichtet Lucha darin bei, dass die Berliner Schwierigkeiten keinen Einfluss auf das Regierungsbündnis in Stuttgart haben würden. „Da sind wir ja schon mehr als eineinhalb Jahre gemeinsam auf der Strecke, haben unsere klar vereinbarte Agenda und arbeiten diese professionell ab“, so der Tuttlinger. So sieht das auch CDUGeneralsekretär Manuel Hagel. „Die Sondierungsgespräche haben insbesondere gezeigt, Respekt und Vertrauen müssen die Basis einer jeden Zusammenarbeit sein. Beides ist zwischen den Koalitionspartnern in Baden-Württemberg – insbesondere zwischen dem Ministerpräsidenten und dem Innenminister – ungebrochen vorhanden“, so der Ehinger.
Auch SPD in der Verantwortung
Hagel geht vor allem mit den Sozialdemokraten hart ins Gericht. „Die SPD hat sich nun offenbar vollends in der Beleidigt-Ecke verschanzt und scheut weiterhin jede staatspolitische Verantwortung. Eine Minderheitsregierung ist für mich nur schwer vorstellbar. Dennoch sind Neuwahlen die schlechteste aller Alternativen“, sagte Hagel der „Schwä- bischen Zeitung“. Die SPD-Landesvorsitzende Leni Breymaier stützt den Weg ihres Bundeschefs Martin Schulz: keine Große Koalition mehr! Bereits beim Landesparteitag am Samstag in Donaueschingen hatte sie gelobt, dass Schulz noch am Abend der Bundestagswahl angekündigt hatte, dass die SPD künftig in der Opposition sein würde. „Die Gemeinsamkeiten mit der CDU sind bis zum letzten Tropfen verbraucht“, erklärte sie am Montag und sprach von einer schweren Niederlage „insbesondere auch für die Sondierer aus BadenWürttemberg“. Denn: „Gerade Herr Kretschmann ist ein glühender Vorkämpfer für das öko-neoliberale-Projekt – und mit ihm die ganze grüne Prominenz aus dem Land. Ähnliches gilt auch für Herrn Strobl.“
Auch Vize-Regierungschef und Landesinnenminister Thomas Strobl, der für die CDU sondierte, übt Kritik an den Liberalen. „Die FDP hat jetzt entschieden auszusteigen. Das respektieren wir, auch wenn wir es freilich für falsch halten. Wo kein Wille, ist auch kein Weg.“Er wie auch Ministerpräsident Kretschmann warnen davor, dass die gescheiterten Verhandlungen in Berlin Auswirkungen auf Europa haben werden. „In den letzten Jahren hat Deutschland Europa in unruhigen Zeiten Stabilität gegeben.“Laut Kretschmann war Deutschland bisher ein „Stabilitätsanker in Europa“. Er mahnt: „Wir müssen alles daran setzen, dass dieser Anker jetzt nicht losgerissen wird.“