Stein für Stein erfühlt er seinen Teich
Hausbesuch Alfred Schwegler ist mit Mitte 20 erblindet und hilft seitdem anderen Betroffenen, ihr Leben in der Dunkelheit zu akzeptieren. Auch dank seiner Familie und seiner Freunde will er sich nicht einschränken
Meitingen Schon 1000-mal ist Alfred Schwegler den Weg in seinem Garten gegangen, schon längst kennt er die Pflastersteine unter seinen Füßen auswendig, weiß, wo die Stufen anfangen, wo der Teich beginnt. Und trotzdem führt ihn seine Frau Gerlinde an der Hand. Manchmal braucht er ihre Hilfe, wenn er die Orientierung verliert. Alfred Schwegler ist blind. Seit seinem 25. Lebensjahr sieht der 63-Jährige seine Umgebung nur noch mit seinen Ohren, mit seinen Händen und seinem Geruchs- und Geschmackssinn.
Alfred und Gerlinde Schwegler leben in Meitingen in einem großen Haus mit einem gepflegten Garten. Die Arbeit dort übernimmt Schwegler – trotz seiner Blindheit kümmert er sich darum, das lässt er sich nicht nehmen. Langsam tastet er sich an den Pflanzen entlang, fühlt mit dem linken Fuß, wo die Abgrenzung des kleinen Steinwegs verläuft. Links davon führt ein kurzer Pfad zum Teich, worin zwei Plastikenten ihre Kreise drehen. Den Teich hat Alfred Schwegler selbst angelegt. Er kniet sich hin und fühlt, wo die Enten schwimmen. Schnell hat er sie ertastet. Seine Frau beschreibt, was er in der Hand hat. „Die Ente ist voller Wasser gelaufen“, erklärt sie ihrem Mann. Er schüttelt das Tier, damit das Wasser entweichen kann.
Das Ehepaar ist aufeinander abgestimmt, das zeigt sich rasch. Gerlinde Schwegler beobachtet aufmerksam die Bewegungen ihres Mannes, erklärt das, was er nicht mehr sehen kann. Nimmt ihn an der Hand, wenn er nicht mehr weiterweiß, aber ohne ihn zu bevormunden. „Dafür nimmt er in seiner Umgebung Dinge wahr, die ich nicht sehe“, sagt Gerlinde Schwegler. „Ich nutze meine anderen Sinne besser als Sehende“, stimmt Alfred Schwegler seiner Frau zu.
In seinem Garten und in seinem Haus bewegt sich Alfred Schwegler sicher, hier kennt er sich aus. Bereits seit 1982 lebt das Ehepaar dort. Hier sind die drei Söhne aufgewachsen: Christoph, Tobias und Benjamin – heute 34, 32 und 31 Jahre alt und selbst schon Väter. Seinen ältesten Sohn hat Schwegler noch gesehen. „Ich habe auf meinen Sohn als Baby noch alleine aufgepasst“, erinnert sich der 63-Jährige an die Anfangszeit zurück. Wie die beiden jüngeren Söhne aussehen, weiß er allerdings nicht, seine Augenerkrankung war zu dem Zeitpunkt schon zu weit fortgeschritten. Inzwischen sieht er seine Kinder auf andere Weise: Er erinnert sich an ihre Stimmen und stellt sich so den Menschen vor. Allerdings hat Alfred Schwegler die Zeit, in der er noch sehen konnte, nicht vergessen. „Ich weiß noch, wie das Rathaus in Augsburg aussieht.“Selbst Führungen durch die Stadt gibt der 63-Jährige noch. „Ich kann mich noch an die gesehene Welt erinnern und träume auch in Farben“, fügt er hinzu. Das sei der Unterschied zu immer schon Blinden. Schwegler hat seine Erkrankung früh akzeptiert und gelernt, mit seiner Behinderung zu leben. 17 hatte er erfahren, dass er eines Tages erblinden werde. „Schon mit 15 hatte ich erste Probleme mit der Sonne und konnte Farben nicht mehr richtig sehen“, sagt Alfred Schwegler. 1981 wurden seine Augen so schlecht, dass er in düsterem Licht nur noch Umrisse erkennen konnte und er seine Arbeit als Großund Außenhandelskaufmann aufgeben musste. Schwegler absolvierte anschließend eine blindentechnische Reha und ließ sich zum Informatiker ausbilden.
Seit neun Jahren engagiert er sich zudem als Bezirksgruppenleiter Schwaben-Augsburg im Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund. Der 63-Jährige hilft Betroffenen, mit ihrem Schicksal umzugehen. „Mir ist es wichtig, dass die Leute ein normales Leben führen können“, sagt Schwegler bestimmt. Auch seine Frau arbeitet in der Verwaltung des Verbunds in Augsburg – beide bereiten durch Gespräche und Erfahrungsaustausch Hilfesuchende auf ihr neues Leben vor. „Oft ist es ein psychisches Problem“, sagt Schwegler. „Es fällt den Betroffenen schwer, ihr Schicksal anzunehmen.“Er erinnert sich noch lebhaft an ein Gespräch mit einer verzweifelten, älteren Dame, die kurz davor stand, ihr Augenlicht zu verlieren. „Sie sagte immer wieder: Ich seh nichts mehr, ich will nicht mehr leben.“Bei derart resignierten Menschen könne das Ehepaar nicht mehr helfen. Seine Kraft zieht es aber aus vielen positiven Gesprächen, in denen beide aus der eigenen Erfahrung heraus helfen konnten. „Manche sind sogar wieder wandern gegangen“, erzählt Schwegler. Auch er hat sich von seiner Behinderung nicht einschränken lassen. Kaum etwas im Haus des Paares deutet darauf hin, dass Alfred Schwegler sich durch seine Welt tasten muss. Nur ein kleiner Stoffball mit einer Rassel darin zeigt, dass Schwegler mit seinen drei Enkelkindern anders spielt, als es sonst Großväter tun. Sonst habe sich in der Wohnung nichts verändert, seit das Paar vor über 30 Jahren dort eingezogen ist. Sicher durchschreitet Schwegler seine Wohnung, ein Teppich im Flur zeigt ihm, wo er sich befindet. Er steht vor der Küche. „Ich koche sogar leichte Gerichte wie Nudeln – da kann ich fühlen, ob sie schon gar sind“, sagt er. Andere Rezepte, etwa mit siedendem Öl, seien hingegen zu gefährlich.
In solchen Fällen helfen ihm seine Frau oder seine Kinder. Zwei seiner Söhne wohnen nicht weit entfernt und unterstützen ihren Vater im Alltag. Als seine Frau kürzlich vier Wochen auf Kur war, musste der 63-Jährige im Haus alles alleine erledigen. Seine Selbstständigkeit hat jedoch auch Grenzen: Noch nie ist Alfred Schwegler selbst Auto gefahren. Dann ist er froh, ein unterstützendes familiäres und freundschaftliches Umfeld zu haben. „Wie sollte ich sonst zu meinen Terminen im Blindenverbund kommen?“, fragt er. Diese sind in ganz Schwaben verteilt: Von Aichach bis nach NeuUlm fährt der Meitinger – das ist alleine nicht zu stemmen.
Als Alfred Schwegler noch jünger war, ertastete er sich mit dem Blindenstock seinen Weg. Das erforderte sehr viel Konzentration. „Schnell mal wohinspringen ist nicht mögMit lich“, sagt er. „Früher bin ich mit meinem Blindenstock im Zug zur Arbeit gefahren.“Etwas Besonderes für die Gemeinde im nördlichen Landkreis, erinnert sich Schwegler zurück.
„Ich war der erste Blinde in Meitingen und bekannt wie ein bunter Hund.“Heute sei Augsburg für ihn zu laut, zu schwer ist es für ihn, sich anhand der Geräusche zu orientieren. Seit zwölf Jahren liegt sein Stock deswegen für lange Strecken in der Ecke, heute lässt er sich fahren. Was nicht bedeutet, dass Alfred Schwegler seine Unabhängigkeit aufgegeben hat. Ganz im Gegenteil: Er nutzt im Alltag technische Hilfsmittel wie beispielsweise eine Software für seinen Computer, die ihm Texte vorliest. Oder seine vibrierende Uhr zeigt ihm unauffällig die Uhrzeit an, ohne dass es sein Umfeld mitbekommt. Ein solches leises Vibrieren zeigt ihm auch: Er muss los. Der nächste Termin in Augsburg wartet.