Am Augsburger Lehrstuhl für Medizinische Psychologie und Soziologie ist man auf erfolgversprechendem Weg zu einer automatischen Schmerzerkennung
Prof. Dr. Alexander Hyhlik-Dürr ist seit 2017 Direktor der Klinik für Gefäßchirurgie und endovaskuläre Chirurgie zunächst am Klinikum, jetzt am Universitätsklinikum Augsburg. Zum 1. Juni 2019 wurde der Spezialist für Erkrankungen des Herzkreislaufsystems und insbesondere für Implantate und Gefäßprothesen auf den Lehrstuhl für Gefäßchirurgie der neuen Medizinischen Fakultät der Universität Augsburg berufen.
Foto: Universitätsklinikum Augsburg Je mehr ein Mensch im Alter „abbaut“, je mehr also – oft durch gravierende Erkrankungen beschleunigt – seine Aufmerksamkeit, sein Gedächtnis, sein Sprachvermögen und seine Problemlösungskompetenz nachlassen, desto schwieriger wird es für ihn, Schmerzen, die er empfindet, zu artikulieren. Gleichzeitig wiederum deutet vieles darauf hin, dass insbesondere chronische Schmerzen ihrerseits wiederum den alterungsbedingten Abbau der neuropsychologischen Leistungen eines Menschen fördern und beschleunigen. Diesen Teufelskreis hat die Schmerzexpertin Prof. Dr. Miriam Kunz als ihren zentralen Forschungsschwerpunkt mit nach Augsburg gebracht. Zum 1. Januar 2019 ist sie von der Universität Groningen hierher gewechselt – als erste Inhaberin des Lehrstuhls für Medizinische Psychologie und Soziologie der neuen Medizinischen Fakultät. Was den Ruf an die Universität Augsburg für sie unter anderem attraktiv gemacht hat, sind, wie sie sagt, gute Möglichkeiten, mit ihren eigenen Forschungsinteressen an Themen anzuknüpfen, die im universitären Zentrum für Interdisziplinäre Gesundheitsforschung (ZIG) bearbeitet werden: „Sterben und Lebensende“etwa oder „Mensch-Maschine-Interaktion“.
Seit vielen Jahren schon befasst sich die Psychologin mit dem Zusammenhang von Schmerz und nonverbaler Kommunikation. Das Schmerzempfinden von Demenzkranken war bereits Thema ihrer Dissertation. Wie Demenz so haben auch Parkinson, Depressionen und andere mit dem Altern einhergehende Erkrankungen Einfluss auf die Verarbeitung und die Äußerungen von Schmerzen. Spezifische Veränderungen der Mimik lassen verlässliche Schlüsse auf das aktuelle Schmerzempfinden zu. Foto/Montage: Miriam Kunz
sie reden würden, erläutert Kunz. Man habe irrigerweise angenommen, dass sie aufgrund des Absterbens von Nervenzellen gar kein Schmerzempfinden hätten. Oder dass sie sich – analog zu Babys – an ein Schmerzereignis später nicht erinnern könnten.
Heute weiß man freilich nicht nur, dass diese Analogie Unfug ist, weil bei Babys Schmerzerlebnisse sogar zum Ausbau von Schmerzbahnen im Hirn führen können. Unzweifelhaft fest steht inzwischen auch, dass Demenzkranke sehr wohl ein Schmerzempfinden haben. Sie können es zwar nicht verbal zum Ausdruck bringen, es äußert sich indirekt aber zum Beispiel in Form von Schlafstörungen oder in der Entwicklung depressiver Züge. Klar wurde dies durch Studien, bei denen man Demenzkranke vertretbaren Druckreizen ausgesetzt hat. Aufgrund der Reaktionen der Patientinnen und Patienten in Form von Veränderungen in Mimik, in Stimme und in Körperhaltung konnte deren Schmerzempfinden eindeutig nachgewiesen werden.
Als Beteiligte einer EU-geförderten Forschungsinitiative hat Miriam Kunz an diesen Studien mitgearbeitet und eine
Skala mit Kriterien entwickelt, anhand derer diese systematisch und differenziert beobachtet und bewertet werden können. „Da ist zunächst einmal der Gesichtsausdruck“, erläutert Kunz, und hier seien fünf Aspekte ausschlaggebend: das Zusammenziehen der Augenbrauen, das Zusammenkneifen der Augen, das Hochziehen der Oberlippe, der sich öffnende Mund und ein insgesamt angespannter Ausdruck. Betrachtet man Körperhaltung und -bewegung, dann geben die Kriterien Erstarren, Einnehmen von Schutz- oder Abwehrhaltung, Unruhe und das Reiben schmerzender Körperbereiche Aufschluss. Stimmlich – bei der sogenannten Vokalisation also – sind Schreien, Stöhnen, Murmeln, Nuscheln und Klagen hilfreiche Indizien, ebenso „Oweh“oder „Aua“-Äußerungen, zu denen auch Demenzkranke unter Umständen noch in der Lage sind, auch wenn sie darüber hinaus nicht mehr sprechen können.
Diese Kriterienskala kommt in der Pflege von Demenzkranken bereits zur Anwendung. Sie unterstützt Angehörige aber auch Pflegeprofis, denn nachweislich ist deren „Erfahrung“mit dem Patienten keineswegs immer ausreichend, um dessen Schmerzempfinden angemessen zu erfassen. „Wir bieten dazu auch ein OnlineTraining an und haben dazu aus Pflegeheimen schon interessierte Anfragen bekommen“, erklärt Kunz. Da Pflegende schlechterdings nicht unentwegt die Mimik des Kranken beobachten können, arbeitet Miriam Kunz – in enger Kooperation unter anderem mit einschlägig ausgewiesenen Fachleuten der Augsburger Informatik – inzwischen an einer „automatischen Schmerzerkennung“: Eine Kamera registriert sogenannte „Gesichtslandmarken“, die von einem speziellen Programm dann ausgewertet werden. Das Problem dabei: Dieses Verfahren funktioniert bislang nur unter ganz bestimmten Bedingungen: nur in hellen Räumen etwa und nur bei jungen und faltenfreien Gesichtern mit frontaler Kamerapositionierung.
„Da müssen wir noch besser werden“, sagt Kunz, ist aber zuversichtlich, dass die automatische Schmerzüberwachung und -erkennung – dann auch unter Einbeziehung von Stimm- und Körperhaltungsanalyse – in fünf bis zehn Jahren ausgereift und praktisch einsatzfähig sein werde. Prof. Dr. Miriam Kunz forscht als Schmerzexpertin seit Anfang 2019 auf dem Lehrstuhl für Medizinische Psychologie und Soziologie der Universität Augsburg. Foto: privat