Public Viewing im Jahr 1966
Serie, Teil 3 Beim WM-Finale zwischen England versammelten sich noch viele Menschen um ein Fernsehgerät
Augsburg Im Jahr 1966 waren Fernsehgeräte in deutschen Haushalten noch eine Rarität. Zudem musste man sich so eine Flimmerkiste leisten können. Doch mein Vater musste so ein Ding dringend haben. Nicht unbedingt wegen mir, seinem zehnjährigen Sohn, der ständig um Einlass bei der Nachbarsfamilie bettelte. Bis dato der einzige Standort, an dem es die Geschichten von Fury, Lassie, Flipper und den Kindern von Bullerbü kostenfrei zu sehen gab. Da wurden Träume wahr, wenn auch nur in Schwarz-Weiß. Für meinen Vater war jedoch etwas ganz anderes wichtig: die FußballWeltmeisterschaft in England.
Mit Fußball selbst hat mich mein Vater schon weitaus früher infiziert, als er mich zu diversen Spielen ins Augsburger Rosenaustadion mitgenommen hatte. Gebolzt wurde draußen auf der Straße und auf den Sportplätzen ohnehin, was das Zeug hielt. Doch eine Weltmeisterschaft im Fußball, das musste etwas Großes sein. Und es wurde auch ein unvergessliches Erlebnis.
Noch nie wurde im Fernsehen zuvor so ausführlich über eine WM berichtet wie im Jahr 1966. und (mehr Sender gab es nicht) haben 13 Spiele live übertragen. Auch das Finale an jenem 30. Juni 1966. Ein Sommertag wie aus einem Bilderbuch. Die Anschaffung eines Fernsehers hatte sich in jeder Hinsicht gelohnt. Im Wohnzimmer meiner Eltern versammelten sich insgesamt 17 Menschen. Wen wundert es, dass es nur männliche Besucher waren? Allesamt Freunde und Arbeitskollegen meines Vaters, die zu Hause keinen Fernseher besaßen. Selbst gebackenen Kuchen von meiner Mutter gab es gratis dazu. Sitzplätze waren nicht ausreichend vorhanden, aber es gab ja auch einen Teppichboden. So sah Public Viewing vor 53 Jahren aus. Ich wurde, vor das Ereignis begann, zum Zigarettenholen geschickt. Salem No 6 (grüne Packung), Ernte 23 (gelb) und Lux (rot) lagen im Trend. Wie alt der Käufer der Rauchwaren an der Gassenschenke der Wirtschaft war, hat damals keinen interessiert. Die Straßen waren wie ausgestorben. Wo es Fernseher gab, versammelten sich Menschen. Unmittelbar mit dem Anpfiff durch den Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst bekam ich eine Chabeso (spezielle Zironenlimo) zu trinken und die Order, ruhig zu sein. Dass mit Helmut Haller ein Augsburger für die Nationalmannschaft spielte, hatte mir mein Vater schon Wochen zuvor erzählt. Und dabei waren auch Franz Beckenbauer, Uwe Seeler, Wolfgang Weber oder Torwart Hans Tilkowski. Doch ausgerechnet der „Augschburger“war es dann, der das erste Tor für Deutschland erzielte. In einem kleinen Wohnzimmer, wo 17 Menschen zu einem kollektiven Jubel ansetzen, kann es höllisch laut werden. Ein Bierglas ging dabei zu Bruch, was Vater mit einem jovialen „Macht nichts“quittierte. Es wurde dann aber ein bitterer Nachmittag. Spätestens das dritte Tor durch Geoff Hurst, das als „Wembley-Tor“in die Geschichte einging, schlug den Fans im Wohnzimmer auf den Magen. Mit welchen Kraftausdrücken Linienrichter Tofik Bachramow und Schiri Dienst bezeichnet wurden, würde hier den Rahmen sprengen.
Irgendwann war es vorbei. Deutschland verlor 2:4 und ich sah zum ersten Mal in meinem Leben starke und kräftige Männer mit Tränen in den Augen (sofern man die im verqualmten Wohnzimmer überhaupt noch erkennen konnte). Ich war mittendrin und heulte mit. Und machte zum ersten Mal die Erfahrung, dass Fußball auch kollektives Leiden sein kann.