Die neue „Realotät“der Grünen
Die Öko-Partei wählt Annalena Baerbock und Robert Habeck an die Spitze – und bricht damit gleich mit zwei ihrer bisherigen Grundsätze. Verlierer sind die linken Fundis
Robert Habeck kennt diesen Ort nur allzu gut. Und auch die besondere Geschichte, die mit ihm verbunden ist. Im Dezember 2002 nahm er, nachdem er gerade erst den Grünen beigetreten war, an seiner ersten Bundesdelegiertenkonferenz im Congress Centrum Hannover teil. Damals wollten die Parteichefs Claudia Roth und Fritz Kuhn in ihren Ämtern bestätigt werden, gleichzeitig aber nicht auf ihr bei der Bundestagswahl wenige Monate zuvor errungenes Abgeordnetenmandat verzichten. Unmöglich, befand die Partei und pochte unerbittlich auf der seit der Gründung der Grünen geltenden strikten Trennung von Amt und Mandat. Mit Tränen in den Augen traten Roth und Kuhn zurück.
15 Jahre und einen Monat später geht es an diesem Wochenende in der gleichen Halle um das gleiche Thema: Wieder einmal debattiert die Partei emotional und erregt um die Trennung von Amt und Mandat, auch wenn diese nach einer Urabstimmung 2003 inzwischen leicht gelockert wurde. Robert Habeck verfolgt die Diskussion aber nicht mehr als Neuling am Rande, sondern als Betroffener. Der 48-Jährige, der längst zum heimlichen Superstar seiner Partei geworden ist, Parteichef werden – und gleichzeitig für eine Übergangszeit Vizeministerpräsident und Minister in der Kieler Jamaika-Koalition bleiben. Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, nach der Satzung völlig ausgeschlossen. Doch dieses Mal fließen keine Tränen.
Die Zeiten haben sich geändert – auch bei den Grünen. Was Ende 2002 noch unvorstellbar war, zumal die Grünen damals in keinem einzigen Landeskabinett vertreten waren, ist Anfang 2018 kein unüberwindliches Hindernis mehr. Die Partei will ihren neuen Liebling und charismatischen Sympathieträger aus Schleswig-Holstein als Vorsitzenden – und sie ist bereit, die heilige Kuh namens Trennung Amt von Mandat ein weiteres Stück preiszugeben.
Unter den Delegierten in der nüchternen Eilenriedehalle ist die Stimmung von Anfang an eindeutig: Habeck ist nicht nur der Wunschkandidat der Realos, sondern wird auch vom linken Flügel akzeptiert, auch wenn etliche Delegierte massive Kritik an seinem Vorgehen üben. Von einer „Lex Habeck“ist die Rede, manche sprechen gar von „Nötigung“oder „Erpressung“. Und doch geht der Parteitag auf seine Bedingungen ein. Am Freitagabend, kurz vor Mitternacht, werden Anträge, die eine sofortige Niederlegung seines Ministeramtes fordern oder ihm nur eine Übergangsfrist von drei Monaten gewähren wollen, mit großer Mehrheit abgelehnt. 578 von 749 Delegierte akzeptieren eine großzügige Übergangsfrist von acht Monaten. Damit ist der Weg für seine Wahl frei. Am Samstag geben ihm 636 von 782 Delegierten ihre Stimme, das sind satte 81,33 Prozent, gerade einmal 107 stimmen mit Nein. Und damit nicht genug. Getreu der Devise „… und das ist erst der Anfang“, der in großen Lettern hinter dem Podium steht, opfern die Grünen in Hannover gleich auch noch die zweite heilige Kuh: die strenge Quotierung.
Eigentlich müsste dem RealoMann Habeck nun eine Fundi-Frau zur Seite gestellt werden. Vom linken Flügel tritt die niedersächsische Fraktionschefin Anja Piel an. Doch sie steht von Anfang an auf verlorenem Posten. Gegen die 37-jährige Annalena Baerbock aus Brandenburg, die allerdings ebenfalls dem Realo-Flügel zugerechnet wird, hat Piel nicht den Hauch einer Chance, zumal ihr bei ihrer Bewerbungsrede auch noch die Stimme versagt. Baerbock reißt mit einer ebenso kämpfewill rischen wie emotionalen Rede die Delegierten von den Sitzen und verspricht eine „neue Radikalität“im Kampf für den Klima- und den Umweltschutz sowie für einen neuen sozialen Ausgleich. „Lasst uns niemals damit anfangen, Öko gegen Sozial auszuspielen, das sind die zwei Seiten derselben Medaille“, fordert sie. Die Grünen seien eine „vielfältige Partei“, die „Radikale und Staatstragende“vereine. Am Ende erhält Baerbock, Mutter zweier kleiner Kinder, 504 Stimmen. Piel bekommt lediglich 272.
Die Begeisterung über das neue Spitzenduo könnte größer kaum sein. „Die beiden stehen für Aufbruch und einen Neuanfang“, sagen unisono die Karlsruherin Sylvia Kotting-Uhl vom linken Flügel und die Neu-Ulmerin Ekin Deligöz von den Realos im Gespräch mit unserer Zeitung. „Habeck und Baerbock sind in der Lage, die großen Zukunftsfragen auf die Tagesordnung zu setzen und Antworten zu entwickeln“, meint Kotting-Uhl. Und Deligöz verweist darauf, dass die Erneuerung der Grünen aus den Ländern komme. „Habeck und Baerbock verkörpern einen neuen Typus von Politikern, sie sind authentisch, haben neue Ideen, stehen mit beiden Beinen im Leben und sind in der Lage, neue Wähler zu erreichen.“
Bloß nicht den neuen Liebling brüskieren