Mit dem Rad zu Meißens schönster Garage
Tausendmal gesehen, nie was dabei gedacht: Überall im Stadtbild taucht Keramik auf. Zwei Experten erzählen die Geschichten dazu – auf einer Radtour – am 14. und 15. Juli.
Rauchende Schlote, viel Dreck und Mäusegrau. Das Meißen um die Jahrhundertwende (18./19. Jh.) war industriell geprägt – auf beiden Seiten der Elbe. Unsere Stadt war das keramische Herz Europas, und das ist nicht einmal übertrieben. „Zu Hochzeiten hatten bis zu 5.000 Menschen einen Job in der keramischen Industrie“, sagt Keramik-Fachmann Reinhard Plüschke. Die kleine Stadt an der Elbe exportierte Fliesen und Kacheln in alle Welt. „Sie müssten mal in die Auftragsbücher von Bidtelia schauen“, schiebt Plüschke hinterher. Dieses Herz schlägt heute immer noch, wenngleich in niedrigerer Frequenz als damals.
Reinhard Plüschke und Ullrich Knüpfer sind ausgewiesene Experten in Sachen Keramik, und haben ein neues Angebot kreiert: Meißens Keramik-Geschichte per Fahrrad. Zehn Stationen in drei Stunden. Dank Kultursommer ist das sogar kostenfrei. Nur ein Fahrrad sollte man dabeihaben. Los geht die Tour an der Tourismus-Information. Für die erste Station – das Porzellan-Glockenspiel im Turm der Frauenkirche – braucht man eigentlich nicht erst aufsatteln. Man erfährt, dass es sich um das erste weltweit klingende Glockenspiel aus Porzellanglocken handelt. 37 Glocken bilden drei Oktaven ab. „Das Interessante: Je größer die Glocken, desto tiefer der Ton“, sagt Knüpfer.
Aber auch die Materialdicke der Glocken spielt eine Rolle. Je dicker die Glockenwände, desto höher der Ton. 1929 war das einzigartige Instrument der Stadt geschenkt worden. Offenbar war es früher, ähnlich wie heute auch (Stichwort: Porzellan-Schaufläche), nicht einfach, die Meißner Bürgerschaft für Neues zu erwärmen. „Man hatte es deshalb zunächst auf dem
Rathausbalkon installiert“, so Knüpfer. Schon August der Starke war auf klingende Porzellanglocken heiß gewesen. Aktuell wird das Meißner Glockenspiel repariert.
Es geht weiter über das Holperpflaster der Görnischen Gasse auf die Wettinstraße. In der St. Benno-Kirche gibt es nicht nur Abkühlung, sondern auch einen freischwebenden Christus (Auferstehender Christus). Geschaffen wurde er vom bekannten Bildhauer Friedrich Press. Eine Taube und das Taufbecken gehen ebenfalls auf sein Konto. Selbst der Heilige Benno steht im Gotteshaus, eine Arbeit von Heinrich Thein, dem ehemaligen künstlerischen Leiter der Staatlichen Porzellanmanufaktur Meissen. Nächster Halt: Nikolaikirche. Ein trauriger Ort – in doppelter Hinsicht. Meißens älteste Kirche fungiert als Gedenkstätte. An 15 Epitaphen aus Meissener Porzellan sind die Namen von 1815 Gefallenen im Ersten Weltkrieg zu lesen. Gelegenheiten, die weltweit erste Gedenkstätte aus Porzellan von innen zu sehen, gibt es wahrlich nicht viele. Sie hat aber ein Problem, schon länger.
2002 stand ein halber Meter Triebischwasser in der Kirche. Richtig trocken wurde das Mauerwerk nie. Die Stahlträger, die die Epitaphe tragen, sind gerostet. Der Auswuchs hat dafür gesorgt, dass PorzellanFliesen gesprungen sind. „Es gibt erste Ideen. Es ist kompliziert“, sagt Knüpfer, der auch im Bauausschuss der St. Afra-Kirchgemeinde sitzt. Übrigens: Vor gut 100 Jahren befand sich die Kirche in einem miserablen Zustand. Mit drei Lotterien hatte man in der Bürgerschaft Geld gesammelt für die Sanierung. 1929, pünktlich zum 1.000. Jubiläum war man fertig.
„Bierstedt hat’s hingekriegt“
Es wird ungemütlich auf dem Fahrrad. Der Neumarkt ist mit dem Bike wahrlich kein Erlebnis. Zum Glück lässt der nächste Halt nicht lange auf sich warten. Es handelt sich um das einzige übrig gebliebene Gebäude der vormaligen „Meißener Ofen- und Porzellanfabrik vorm. Carl Teichert“, welches 1892 als repräsentatives Verwaltungsgebäude errichtet worden war. Alte Bilder lassen erahnen: Hier stand eine amtliche Fabrik.
Die grünen Kacheln an der Front – alles Unikate. Keine gleicht der anderen. Als die Neumarkt-Arkaden gebaut wurden, galt es neue Kacheln anzufertigen. Kein leichtes Unterfangen. „Es gab keine Formen, keine Zeichnungen mehr. Wir wussten aber, Bidtelia-Chef Ulrich Bierstedt und sein Team kriegen das hin“, meint Plüschke. Das haben sie dann auch. Wie genau, das wird auch erklärt. Rätselhaft ist jedoch, wo das Emblem „Meissener Plattenwerk“abgeblieben ist. Anekdote am Rande: Die Verkleidung für die Zuckerbäcker-Häuser auf der Karl-Marx-Allee (vormals: Frankfurt Allee) in Berlin stammt aus dem Meißner Werk. Demnächst sollen die Häuser erneuert werden. Dieses Mal kommt wohl eine Manufaktur aus Westdeutschland zum Zug.
Bidtelia ist das Stichwort für die nächste Station: Wir sind auf der Brauhausstraße angekommen. Als Johann Georg Julius Bidtel hier seinen Betrieb bauen ließ, war überall noch Acker und Cölln ein eigenständiger Ort. Angefangen hatte er vor über 160 Jahren auf dem Meißner Markt (Markt-Apotheke). Zunächst widmete er sich chemischen Präparaten zur Filmentwicklung und Düngung. Dann rückten Farben und Glasuren in den Fokus. Bidtels Schwiegersohn, der Chemiker Emil Theodor Felix Ohm, übernahm später den Betrieb. Offenbar ein richtiger MarketingFuchs. Um das Portfolio der Firma werbewirksam in Szene zu setzen, entstand das Beamtenhaus auf der Straßenseite gegenüber. Etwas später kam eine Großgarage dazu. „Da standen noch richtige Autos drinne. Meiner Meinung nach die schönste Garage der Stadt“, sagt Plüschke. Wer will, kann nach der Tour noch gemeinsam einkehren.
Meißens Kulturreferentin Sara Engelmann ist begeistert. „Im nächsten Jahr soll die Runde ins touristische Ausflugsprogramm aufgenommen werden“, erzählt sie. Eingeladen seien aber auch alle Meißner, die sich für ihre Stadt interessieren. Kurzentschlossene Radlerinnen und Radler können sich für die Termine am 14. und 15. Juli verbindlich über buchungen@stadtmeissen.de anmelden.