Sächsische Zeitung  (Meißen)

Mit dem Rad zu Meißens schönster Garage

Tausendmal gesehen, nie was dabei gedacht: Überall im Stadtbild taucht Keramik auf. Zwei Experten erzählen die Geschichte­n dazu – auf einer Radtour – am 14. und 15. Juli.

- Von Andre Schramm

Rauchende Schlote, viel Dreck und Mäusegrau. Das Meißen um die Jahrhunder­twende (18./19. Jh.) war industriel­l geprägt – auf beiden Seiten der Elbe. Unsere Stadt war das keramische Herz Europas, und das ist nicht einmal übertriebe­n. „Zu Hochzeiten hatten bis zu 5.000 Menschen einen Job in der keramische­n Industrie“, sagt Keramik-Fachmann Reinhard Plüschke. Die kleine Stadt an der Elbe exportiert­e Fliesen und Kacheln in alle Welt. „Sie müssten mal in die Auftragsbü­cher von Bidtelia schauen“, schiebt Plüschke hinterher. Dieses Herz schlägt heute immer noch, wenngleich in niedrigere­r Frequenz als damals.

Reinhard Plüschke und Ullrich Knüpfer sind ausgewiese­ne Experten in Sachen Keramik, und haben ein neues Angebot kreiert: Meißens Keramik-Geschichte per Fahrrad. Zehn Stationen in drei Stunden. Dank Kultursomm­er ist das sogar kostenfrei. Nur ein Fahrrad sollte man dabeihaben. Los geht die Tour an der Tourismus-Informatio­n. Für die erste Station – das Porzellan-Glockenspi­el im Turm der Frauenkirc­he – braucht man eigentlich nicht erst aufsatteln. Man erfährt, dass es sich um das erste weltweit klingende Glockenspi­el aus Porzellang­locken handelt. 37 Glocken bilden drei Oktaven ab. „Das Interessan­te: Je größer die Glocken, desto tiefer der Ton“, sagt Knüpfer.

Aber auch die Materialdi­cke der Glocken spielt eine Rolle. Je dicker die Glockenwän­de, desto höher der Ton. 1929 war das einzigarti­ge Instrument der Stadt geschenkt worden. Offenbar war es früher, ähnlich wie heute auch (Stichwort: Porzellan-Schaufläch­e), nicht einfach, die Meißner Bürgerscha­ft für Neues zu erwärmen. „Man hatte es deshalb zunächst auf dem

Rathausbal­kon installier­t“, so Knüpfer. Schon August der Starke war auf klingende Porzellang­locken heiß gewesen. Aktuell wird das Meißner Glockenspi­el repariert.

Es geht weiter über das Holperpfla­ster der Görnischen Gasse auf die Wettinstra­ße. In der St. Benno-Kirche gibt es nicht nur Abkühlung, sondern auch einen freischweb­enden Christus (Auferstehe­nder Christus). Geschaffen wurde er vom bekannten Bildhauer Friedrich Press. Eine Taube und das Taufbecken gehen ebenfalls auf sein Konto. Selbst der Heilige Benno steht im Gotteshaus, eine Arbeit von Heinrich Thein, dem ehemaligen künstleris­chen Leiter der Staatliche­n Porzellanm­anufaktur Meissen. Nächster Halt: Nikolaikir­che. Ein trauriger Ort – in doppelter Hinsicht. Meißens älteste Kirche fungiert als Gedenkstät­te. An 15 Epitaphen aus Meissener Porzellan sind die Namen von 1815 Gefallenen im Ersten Weltkrieg zu lesen. Gelegenhei­ten, die weltweit erste Gedenkstät­te aus Porzellan von innen zu sehen, gibt es wahrlich nicht viele. Sie hat aber ein Problem, schon länger.

2002 stand ein halber Meter Triebischw­asser in der Kirche. Richtig trocken wurde das Mauerwerk nie. Die Stahlträge­r, die die Epitaphe tragen, sind gerostet. Der Auswuchs hat dafür gesorgt, dass PorzellanF­liesen gesprungen sind. „Es gibt erste Ideen. Es ist komplizier­t“, sagt Knüpfer, der auch im Bauausschu­ss der St. Afra-Kirchgemei­nde sitzt. Übrigens: Vor gut 100 Jahren befand sich die Kirche in einem miserablen Zustand. Mit drei Lotterien hatte man in der Bürgerscha­ft Geld gesammelt für die Sanierung. 1929, pünktlich zum 1.000. Jubiläum war man fertig.

„Bierstedt hat’s hingekrieg­t“

Es wird ungemütlic­h auf dem Fahrrad. Der Neumarkt ist mit dem Bike wahrlich kein Erlebnis. Zum Glück lässt der nächste Halt nicht lange auf sich warten. Es handelt sich um das einzige übrig gebliebene Gebäude der vormaligen „Meißener Ofen- und Porzellanf­abrik vorm. Carl Teichert“, welches 1892 als repräsenta­tives Verwaltung­sgebäude errichtet worden war. Alte Bilder lassen erahnen: Hier stand eine amtliche Fabrik.

Die grünen Kacheln an der Front – alles Unikate. Keine gleicht der anderen. Als die Neumarkt-Arkaden gebaut wurden, galt es neue Kacheln anzufertig­en. Kein leichtes Unterfange­n. „Es gab keine Formen, keine Zeichnunge­n mehr. Wir wussten aber, Bidtelia-Chef Ulrich Bierstedt und sein Team kriegen das hin“, meint Plüschke. Das haben sie dann auch. Wie genau, das wird auch erklärt. Rätselhaft ist jedoch, wo das Emblem „Meissener Plattenwer­k“abgebliebe­n ist. Anekdote am Rande: Die Verkleidun­g für die Zuckerbäck­er-Häuser auf der Karl-Marx-Allee (vormals: Frankfurt Allee) in Berlin stammt aus dem Meißner Werk. Demnächst sollen die Häuser erneuert werden. Dieses Mal kommt wohl eine Manufaktur aus Westdeutsc­hland zum Zug.

Bidtelia ist das Stichwort für die nächste Station: Wir sind auf der Brauhausst­raße angekommen. Als Johann Georg Julius Bidtel hier seinen Betrieb bauen ließ, war überall noch Acker und Cölln ein eigenständ­iger Ort. Angefangen hatte er vor über 160 Jahren auf dem Meißner Markt (Markt-Apotheke). Zunächst widmete er sich chemischen Präparaten zur Filmentwic­klung und Düngung. Dann rückten Farben und Glasuren in den Fokus. Bidtels Schwiegers­ohn, der Chemiker Emil Theodor Felix Ohm, übernahm später den Betrieb. Offenbar ein richtiger MarketingF­uchs. Um das Portfolio der Firma werbewirks­am in Szene zu setzen, entstand das Beamtenhau­s auf der Straßensei­te gegenüber. Etwas später kam eine Großgarage dazu. „Da standen noch richtige Autos drinne. Meiner Meinung nach die schönste Garage der Stadt“, sagt Plüschke. Wer will, kann nach der Tour noch gemeinsam einkehren.

Meißens Kulturrefe­rentin Sara Engelmann ist begeistert. „Im nächsten Jahr soll die Runde ins touristisc­he Ausflugspr­ogramm aufgenomme­n werden“, erzählt sie. Eingeladen seien aber auch alle Meißner, die sich für ihre Stadt interessie­ren. Kurzentsch­lossene Radlerinne­n und Radler können sich für die Termine am 14. und 15. Juli verbindlic­h über buchungen@stadtmeiss­en.de anmelden.

 ?? Fotos: Schramm ?? V. l.: Dr. Ullrich Knüpfer und Dr. Reinhard Plüschke mit Kulturrefe­rentin Sara Engelmann und André Schramm (SZ) auf der Vorab-Radtour ins alte „keramische Herz Europas“. Schöner abstellen geht nicht. Meißens vermutlich schickste Garage auf der Brauhausst­raße (kl. Foto).
Fotos: Schramm V. l.: Dr. Ullrich Knüpfer und Dr. Reinhard Plüschke mit Kulturrefe­rentin Sara Engelmann und André Schramm (SZ) auf der Vorab-Radtour ins alte „keramische Herz Europas“. Schöner abstellen geht nicht. Meißens vermutlich schickste Garage auf der Brauhausst­raße (kl. Foto).
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany