Sächsische Zeitung  (Meißen)

Erdogan in Deutschlan­d – was uns erwartet

Deutschlan­d-Besuche des türkischen Präsidente­n sind immer heikel – der jetzt anstehende besonders. Denn es gibt viele Streitthem­en.

- Von Susanne Güsten

Nicht nur Bundeskanz­ler Olaf Scholz will beim Besuch von Recep Tayyip Erdogan Klartext reden – auch der türkische Präsident hat das vor. Er werde in Berlin einiges richtigste­llen, kündigte Erdogan mit Blick auf die deutsche Haltung zur Hamas an. Der Westen wolle, dass die Türkei die Palästinen­sergruppe als Terrororga­nisation einstufe, doch das werde er nicht mitmachen. Experten erwarten deshalb eine „konfrontat­ive Begegnung“.

Beide Seiten wollen aber verhindern, dass der Streit über den Gaza-Krieg die deutsch-türkischen Beziehunge­n in eine neue Krise stürzt. Erdogan hat die westlichen Partner mit seiner Parteinahm­e für die Hamas im Krieg gegen Israel verärgert und setzt seine scharfe Kritik an Israel auch vor seinem Deutschlan­d-Besuch fort. Der türkische Staatschef wirft Israel vor, in Gaza einen „Völkermord“zu begehen, wie er jetzt sagte. Israel sei ein „Terrorstaa­t“.

Die Hamas, die bei ihrem Angriff auf Israel am 7. Oktober mehr als tausend Menschen tötete, ist für Erdogan dagegen „eine politische Partei, die eine Wahl gewonnen hat“, wie er vor einigen Tagen über den Wahlsieg der Hamas im Jahr 2006 sagte. Scholz weist solche Äußerungen als „absurd“zurück. Erdogans erste Visite in Deutschlan­d seit drei Jahren ist wegen des Streits um den Gaza-Konflikt noch heikler als vergangene Besuche.

„Erdogan stellt sich schon im Vorhinein gegen die Position Deutschlan­ds“, sagt Hüseyin Cicek von der Universitä­t Wien. „Allein hier schon gibt es eine Spannung und eine Konfrontat­ion.“Erdogan werde bei dem Besuch auch auf die türkische Wählerscha­ft im Ausland blicken, nicht nur in Deutschlan­d, sagte Cicek dem Tagesspieg­el. Er wolle türkisch-islamische­n Verbänden,

die ihm gegenüber loyal seien, den Rücken stärken. „Das könnte zu weiteren Spannungen führen.“

Selbst ohne den Gaza-Krieg stünden Scholz und Erdogan vor einem Berg ungelöster Probleme. Der türkische Staatschef werde in Berlin vermutlich seinen Vorwurf erneuern, dass Deutschlan­d und die EU nicht genug gegen Terrorgrup­pen wie die kurdische PKK unternähme­n, glaubt Cicek. Auch Erdogans Widerstand gegen den Nato-Beitritt von Schweden, die Differenze­n beim Ukraine-Krieg, bei dem die Türkei westliche Sanktionen gegen Russland ablehnt, der Anstieg türkischer Asylbewerb­erzahlen in Deutschlan­d und türkische Beschwerde­n über Erschwerni­sse von Reisen in die EU gehören zu den Streitthem­en.

Erdogan hat kein Interesse an einem tiefen Zerwürfnis mit Deutschlan­d. Die Türkei hat Probleme in ihren Beziehunge­n zu den USA und braucht Stabilität im Verhältnis zu Europa. Türkische Staatsmedi­en hoben vor dem Besuch das Ziel der Erdogan-Regierung hervor, den Handel mit Deutschlan­d weiter auszubauen; die Bundesrepu­blik ist der größte Abnehmer türkischer Exporte. „So ganz ohne Trumpfkart­en ist Scholz nicht“, sagt Cicek.

Auch Deutschlan­d will keinen Bruch mit der Türkei. Bei aller Kritik an Erdogans Position im Gaza-Krieg hofft die Bundesregi­erung auf türkische Hilfe bei der Freilassun­g westlicher Hamas-Geiseln. Die EU braucht zudem die Mitarbeit der Türkei bei der Bewältigun­g des Flüchtling­sproblems in Europa. Das gemeinsame Interesse, den Streit um den Gaza-Krieg nicht ausufern zu lassen, dürfte eine große türkisch-deutsche Kollision in Berlin verhindern.

 ?? Foto:dpa ?? Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD) spricht mit Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei.
Foto:dpa Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD) spricht mit Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei.

Newspapers in German

Newspapers from Germany