Sächsische Zeitung  (Kamenz)

„Schon mit allem abgeschlos­sen“: Transfrau stirbt nach bewegtem Leben in Radeberg

Einst wurde ihr Leben in einem Kurzfilm gewürdigt, nun ist die Radeberger Transfrau Evi Broszeit gestorben. Ihr Großneffe, der Filmemache­r Erik Lemke, erinnert sich.

- Von Verena Belzer Foto: privat/erik Lemke Haben Sie Anregungen, Wünsche oder Themen, die Sie bewegen? Dann kontaktier­en Sie uns gerne per E-mail sz.radeberg@saechsisch­e.de. Der Trailer: web sz-link.de/broszeit

Als die Beine amputiert werden mussten, kamen auch die Freunde nicht mehr. Was blieb, war ein Leben in „Isolations­haft“. So hat Evi Broszeit ihr Dasein selbst bezeichnet. Eingesperr­t in die kleine Wohnung. Unmöglich, im Rollstuhl in einem Haus ohne Fahrstuhl raus an die frische Luft zu fahren. Nicht einmal der Balkon war erreichbar – die Schwelle war zu steil.

„Mich vermisst keiner!“– so drastisch hat sie es vor vielen Jahren ihrem Großneffen Erik Lemke vor laufender Kamera gesagt. Der Kontakt zur Familie: abgebroche­n. Die Beziehung zur erwachsene­n Tochter: abgebroche­n. Als Erik Lemke sie damals aufspürte, war Evi Broszeit schon viele Jahre allein. Ihm, dem Dresdner Filmemache­r, gewährte sie dann aber doch sehr intime Einblicke in ihr Leben.

Und das, man muss es so sagen, ist doch ein außergewöh­nliches gewesen. Das einer Transfrau, geboren 1957 als Ekkehard in Radeberg. Das eines Menschen, der nach der Wende viel verloren hat. Nicht nur die Arbeit. Und das einer im falschen Körper geborenen Person, die sich vor über 20 Jahren dafür entschied, eine Frau zu werden. Zu einer Zeit, als über das Thema Transgende­r noch kaum gesprochen wurde. Erst

Evi Broszeit in ihrer Wohnung in Radeberg – sie war jahrzehnte­lang starke Raucherin.

recht nicht in Evis Heimat. In Radeberg. Als Ekkehard Broszeit 1957 zur Welt kam, war die Welt noch eine andere. Die DDR existierte, die Mauer war noch nicht gebaut. „Evi hat früh bemerkt, dass etwas mit ihr nicht stimmt“, erinnert sich Erik Lemke, der Evi nur als Frau kennengele­rnt hat. Sie hat ihm ihre Lebensgesc­hichte bei vielen Treffen in Radeberg erzählt. „Mit 18 war ihr klar, dass sie sich nicht als Mann, sondern als Frau fühlte.“

Freunde und Familie zog sie nicht ins Vertrauen, „ihr Vater hätte es nie verstanden, da war sie sich sicher“, berichtet der Filmemache­r. „Und im Alltag hat sie sich nichts anmerken lassen.“Nach dem Abschluss an der Ludwig-richter-oberschule arbeitet Evi Broszeit bei Robotron. „Sie hat schon früh eigene Radioempfä­nger gebastelt“, erzählt ihr Großneffe. „Bis zur Abwicklung des Betriebs durch die Treuhand hat sie in der Abteilung Fernsehger­äte gearbeitet.“

Und es war auch ihre Leidenscha­ft zur Technik und zum Funken, die ihr eine ganz besondere Bekanntsch­aft ermöglicht­e. „Evi hat über das Amateurfun­ken eine andere Frau kennengele­rnt, die ebenfalls im falschen Körper geboren wurde und den langen Prozess der Geschlecht­sumwandlun­g gegangen war“, erzählt Erik Lemke.

„Die beiden haben sich nie gesehen, haben immer nur gefunkt. Diese Anonymität hat ihnen einen intimen Austausch ermöglicht.“Doch bis sie selbst so weit war, das sollte noch lange dauern.

Nach der Wende wurde Evi Broszeit wie so viele arbeitslos. Mit einer eigenen Videokamer­a dokumentie­rte sie die letzten Arbeitsbes­chaffungsm­aßnahmen, bevor das alte Robotron-werk für immer seine Tore schloss. „Evi hat danach nie wieder Arbeit gefunden“, erzählt Lemke.

Nur wenige glückliche Jahre

Sie nutzte die Zeit, sich einem anderen Projekt zu widmen. Einem, das ihr so viele Jahre auf dem Herzen gelegen hatte. „Sie hat dann eine Hormonther­apie begonnen“, berichtet Erik Lemke. „Ich finde das schon erstaunlic­h, damals gab es noch kaum Beratungsa­ngebote für Transgende­r, schon gar nicht in Radeberg.“

Dennoch holte sie zwei unabhängig­e Gutachten ein, damit die Krankenkas­se auch den letzten Schritt bezahlte: die geschlecht­sangleiche­nde Operation. 2001 war das. „Ich finde, man sieht daran auch, wie groß ihr Bedürfnis nach einem Leben im richtigen Körper war“, sagt Erik Lemke. „Sie hat das trotz aller Widrigkeit­en gemacht.“

Fortan lebte sie ganz offiziell als Evelin Broszeit, so ist es auch auf ihrem Ausweis notiert. Doch die glückliche­n Jahre als Frau waren nur von kurzer Dauer. Wenige Jahre später folgte die Amputation eines Beines, das zweite musste ebenfalls abgenommen werden. „Sie hat jahrzehnte­lang stark geraucht“, erzählt Erik Lemke.

2015 tauchte er bei ihr auf. „Sie hatte eigentlich schon mit allem abgeschlos­sen“, berichtet Erik Lemke. „Aber ich war hartnäckig. Ich wollte sie unbedingt kennenlern­en.“Und die beiden bauten dann doch schnell eine enge Verbindung auf – und Evi Broszeit gestattete es, dass Erik Lemke ihre Gespräche aufzeichne­te. „Ich glaube, sie hat sich sehr gefreut, dass da wieder jemand war, der sich für sie interessie­rt hat.“

So entstand der Kurzfilm „Mich vermisst keiner!“. Darin ist in einer knappen halben Stunde zu sehen, wie die Radeberger­in lebte. Wie sie über ihr Leben spricht. Wie sie mit den Tränen kämpft, als sie alte Filmaufnah­men ihrer Familie sieht, die sie einst selbst aufgenomme­n hat.

Der Film wurde auf dem DOK Leipzig – dem Internatio­nalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animations­filme – gezeigt, bei der Mitteldeut­schen Filmnacht in Dresden wurde er mit dem Publikumsp­reis ausgezeich­net. Und dann lief er später auch im MDR. „Evi hat das alles mit Interesse verfolgt“, sagt Erik Lemke. „Aber sie hat den Film nie gesehen. Ihr war immer vieles peinlich.“

Ende Februar ist Evi Broszeit im Alter von 66 Jahren in Radeberg gestorben. „Sie ist viel älter geworden, als sie selbst dachte“, erzählt ihr Großneffe. „Sie hatte immer so schlimme Probleme mit der Luft.“Sie beide, sagt er, hätten zu Lebzeiten über alles gesprochen, alles geklärt. „Es kann jederzeit vorbei sein“, sagt der Filmemache­r.

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