Sächsische Zeitung (Großenhain)
Wie Schule Spaß macht
Am Montag beginnt für 37.700 Erstklässler in Sachsen die Schule und damit eine lange Zeit des Lernens. Eltern können ihr Kind dabei unterstützen – und so manche Glaubenssätze getrost über Bord werfen.
Der Ernst des Lebens steht vor der Tür. Von Montag an, mindestens neun Jahre lang. Denn so lange gilt in Sachsen die Schulpflicht. Ernst scheint nicht sehr freundlich zu sein, denn angekündigt wird er meist mit strenger, besorgter Miene. Eine schlechte Idee, befindet Saskia Niechzial, Grundschullehrerin und Autorin des eben erschienen Buches „Hallo Schulanfang“. „Wer Kindern mit dem Ernst des Lebens droht, legt keinen guten Grundstein für Spaß in der Schule – und letztlich auch nicht fürs erfolgreiche Lernen“, sagt sie.
Der Schulanfang ist eine besondere Herausforderung, nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene. Da liegt denn auch die Crux: Kinder orientieren sich an ihren Eltern. „Wenn diese ständig Sorgen äußern und beispielsweise sagen, dass sich die Kinder in der Schule umgucken werden oder dies und jenes nicht mehr dürften, übertragen sie ihre Ängste und Unsicherheiten aufs Kind“, so Saskia Niechzial. „Eltern sollten daher schauen, woher ihre Bedenken kommen und welche Assoziationen sie mit ihrer Schulzeit haben.“Oft seien es die eigenen schlechten Erinnerungen, wie etwa an den Mathelehrer, der einen an der Tafel blamiert hat, die Eltern mit gemischten Gefühlen auf den Schulbeginn ihres Nachwuchses blicken lassen.
Doch Kinder machen ihre eigenen Erfahrungen – und lernen Tag ein, Tag aus, seit sie auf der Welt sind. In der Regel mache Lernen glücklich, sagt Neurobiologe Martin Korte. Und wer glücklich sei, lerne leichter. Die Gehirnforschung zeigt seit Langem, dass besonders das im Gedächtnis bleibt, was man mit viel Emotion gelernt hat – guter wie schlechter. „Hirnstrukturen, die Fakten verarbeiten, sind dieselben, die auch Gefühle verarbeiten“, so Martin Korte. Das heißt aber auch, dass alles, was unter Druck und mit Angst gelernt wird, mit eben diesen Gefühlen verbunden ist. Das sei unterm Strich wenig förderlich für die Schulzeit, warnt der Gehirnforscher. „Wer Angst hat, sei es vor strafenden Eltern, kritisierenden Lehrern oder drohenden Misserfolgen, der kann nicht effizient lernen, weil dafür nötige Hirnfunktionen nur eingeschränkt arbeiten.“
Statt also am Anfang der Schulzeit Bedenken und Sorgen zu äußern, raten Lernforscher und auch Pädagogen wie Saskia Niechzial Eltern dazu, gemeinsam mit dem Schulkind auf all die schönen Sachen zu fokussieren, die bald anstehen: Projekte, Ausflüge, Aufführungen, bunte Klassenzimmer, Lesen lernen und große Pausen voller Freundschaft und Spielideen. Wer hier mangelnden Realitätssinn beklagt, dem rät
Saskia Niechzial dennoch zu einer positiven Aussage statt der Drohung mit Ernst und Folgen. Viel wirksamer seien Sätze wie „Wenn du Hilfe brauchst, sind wir immer für dich da“oder „Du kannst immer deine Lehrkraft fragen und mit uns über alles sprechen.“
Zappeln und lernen?
Eine der häufigsten Sorgen von Eltern betrifft die Konzentrationsfähigkeit und das Stillsitzen. „Die Dauer, die sich ein Grundschulkind in der ersten Klasse konzentrieren kann, beträgt rund zehn Minuten. Und das wissen gute Lehrkräfte auch“, beruhigt Grundschullehrerin Saskia Niechzial. Eltern sollten sich also nicht gleich verrückt machen, wenn ihr angehendes Grundschulkind zu Hause ihrer Meinung nach zu viel herumzappelt. Kinder verhalten sich nämlich daheim im geschützten Umfeld meist anders als in der Schule.
Neurowissenschaftliche Untersuchungen zeigen aber, dass Bewegung generell eher förderlich fürs Lernen ist. Sie unterstützt nachweislich die Vernetzung der Gehirnzellen. Das heißt, Konzentration und Merkfähigkeit der Schüler nehmen in Bewegung zu, während ihre Stresshormone abgebaut werden. Zudem wird die Ausschüttung von Dopamin aktiviert. Dieser Stoff, umgangssprachlich auch Glückshormon genannt, hilft den Nervenzellen im Gehirn, das Gelernte besser zu verarbeiten. Manche Schulen setzen mittlerweile auf Lernspiele in Bewegung und integrieren kurze Hopps-auszeiten in den Unterricht.
Auch Kathrin Michel, Therapeutin im Lernzentrum Memoro in Dresden, kennt die Probleme und Sorgen vieler Eltern, wenn es um mangelndes Stillsitzen und Konzentrationsprobleme geht. Sie empfiehlt, den Kindern nach der Schule zu Hause erst einmal einen Freiraum zu gönnen, am besten draußen, statt sie gleich zum Hausaufgaben machen oder Lernen an den Schreibtisch zu holen. „Kinder brauchen Erholung von dem, was in der Schule passiert ist, gerade die Kleinen“, sagt die ehemalige Lehrerin. „Eine Auszeit ermöglicht es dem Kopf, Geschehnisse zu verarbeiten, Gelerntes abzuspeichern.“Die Pause vom Lernen sollte allerdings nicht vorm Handy oder Fernseher stattfinden, warnen Gehirnforscher. Die schnell wechselnden Bilder fordern das Gehirn enorm. So ist es weniger gut in der Lage, zuvor erlernte Informationen nachhaltig abzuspeichern.
Wenn nach der Auszeit daheim wieder Zeit ist für Hausaufgaben, dürfen diese gern an unorthodoxen Plätzen stattfinden: auf dem Boden, am Esstisch, auf dem Balkon. „Kinder suchen sich instinktiv den für sie passenden Platz, auch wenn das zum Leidwesen der Eltern selten der teuer neu gekaufte Schreibtisch ist. Manche hängen etwa beim Lesen kopfüber von der Couch – und das ist völlig in Ordnung“, sagt Kathrin Michel. Hier sollten Eltern sehr gelassen sein und das Ziel, nämlich das Lernen, in den Vordergrund stellen.
Das Problem: In der Schule besteht eine solche Wahlmöglichkeit des Lernortes nicht. Für manche Schüler ist das Klassenzimmer eine echte Herausforderung. „Da gibt es viel optische Ablenkung durch gut gemeinte bunte Tafel- und Wandbilder, neue Menschen um einen herum und viele neue Geräusche. All das beeinträchtigt die Konzentration“, so die Therapeutin. Da helfe zum Beispiel Abschirmung, entweder mental mit gezielten Übungen oder ganz einfach mit Kleidung, wie Saskia Niechzial aus eigener Unterrichtserfahrung weiß. „Eltern können ihrem Kind gern ein Cap, einen Pullover mit Kapuze oder eine Mütze mitgeben“, sagt sie. „Viele meiner Schüler nutzen Kopfbedeckungen nicht nur, weil sie cool aussehen wollen, sondern auch, weil sie damit eine Möglichkeit haben, sich zurückzuziehen, um Ruhe zum Lernen zu haben.“Wer deswegen Irritationen bei der Grundschullehrkraft befürchtet, spricht das Thema am besten früh offen an. Genauso wie die leidige Sorge ums Stillsitzen. „Viele Lehrkräfte stehen Ideen sehr aufgeschlossen gegenüber, wie man Kindern im Klassenraum Bewegung ermöglicht, um sich selbst zu regulieren und zu konzentrieren“, sagt Saskia Niechzial. Das kann etwa ein um die Stuhlbeine angebrachtes Gummiband sein, an dem sich zappelnde Füße abreagieren können, oder therapeutische Sitzkissen und -hocker.
Nicht selten sind Kinder auch aus ganz simplen Gründen unruhig: Sie müssen aufs Klo, haben Hunger und Durst, haben schlecht geschlafen oder hatten gerade Streit und Stress mit Freunden oder Eltern. Gerade wenn es zu Hause Spannungen gibt, sollte das der Lehrkraft mitgeteilt werden, rät Saskia Niechzial. So könnten Lehrer entweder einfach mal ein Auge zudrücken oder verständnisvoll mit dem Kind sprechen. Ohnehin ist die Lehrkraft Ansprechpartner Nummer eins, wenn es um Schulthemen geht – sowohl für Eltern als auch für Schüler. Heißt aber für die Eltern: Vorsicht bei der Wortwahl vorm Kind. „Als Erstes muss das Kind gut mit der Lehrerin oder dem Lehrer auskommen“, sagt Saskia Niechzial. „Eltern sollten diese Beziehung schützen und mit Kommentaren sparen wie ‚Was hat denn Frau Müller da schon wieder gemacht, das ist aber seltsam‘.“Erstklässlereltern rät die Grundschullehrerin, sich am ersten Elternabend kurz bei der Lehrkraft vorzustellen und sich dann bis zu den Herbstferien alles in Ruhe anzuschauen. So lange brauche es meist, bis sich die Klasse eingespielt hat.
Die Kraft des Wortes „noch“
Einen Satz werden Eltern sicher öfter klagend aus dem Kinderzimmer hören: „Ich kann das nicht!“Wer jetzt mit einem „Doch!“kontert und vielleicht noch ein „Das ist doch nicht so schwer, du musst dich eben mehr anstrengen“hinterherschiebt, hat den Stress in der Regel schon vorprogrammiert. Das Kind fühlt sich weder in seiner Verzweiflung ernst genommen, noch verträgt es in diesem Moment Vorwürfe. Die Berliner Bildungsaktivistin und Lernbegleiterin Caroline von St. Ange rät Eltern, einfach ein Wort in dem verzweifelten Ausruf zu ergänzen: noch. „Du kannst es noch nicht. In diesem winzigen Austausch, den ich schon tausendfach erlebt habe, steckt eine ganze Menge, nämlich der Unterschied zwischen zwei Haltungen, die für das Lernen entscheidend
sind“, schreibt sie in ihrem neuen Buch „Alles ist schwer, bevor es leicht ist“. Denn ohne dem „Noch“werde ein statischer Zustand beschrieben, der ausweglos erscheine. Das „Noch“dagegen mache klar, dass es Verbesserungspotenzial gebe. Eltern dürfen zudem gern spielerisch ermutigen. Wenn etwas schwerfällt, hilft etwa die Frage: „Wie isst man einen Elefanten?“Und die Antwort: „Stück für Stück.“
Die Haltung ist also entscheidend dafür, ob Kinder Lernen als Spaß begreifen oder als andauernden Misserfolg. Denn natürlich wird am Anfang so manches noch (!) nicht klappen, es einiger Übung bedürfen, bis die Buchstaben gut lesbar sind, das Verständnis beim Lesen sich entwickelt. Das Wichtige: Nicht nur Kinder, sondern vor allem Eltern sollten das Wörtchen „noch“sehr beherzigen, rät Caroline von St. Ange. Und am besten zusätzlich an einer weiteren Stellschraube drehen, wenn das Kind es dann kann: dem Lob. Statt die Intelligenz des Nachwuchses zu loben und Dinge wie „Du bist ja schlau“zu sagen, setzen Lernforscher auf das sogenannte prozessorientierte Loben. „Das heißt, ich hebe die Anstrengung und den Fleiß hervor, die zum Ziel geführt haben“, sagt Lehrerin Saskia Niechzial. Wer dagegen höre, er sei schlau, werde sich tendenziell weniger reinhängen, weil er ja schlau ist. Und meist weniger gut mit Niederlagen klarkommen. Denn diese erschüttern das Selbstbild des schlauen Kindes, das sich dann schnell für dumm halten kann. „Das mag für Erwachsene seltsam klingen, doch entspricht unseren Erfahrungen“, sagt Saskia Niechzial. „Kinder, die häufig für ihren Intellekt gelobt werden, haben oft eine übersteigerte Angst zu scheitern und trauen sich weniger zu“, bestätigt auch Caroline von St. Ange. Dabei waren diese Kinder einmal anders, sagt die Lernexpertin. Wer etwa laufen gelernt hat, ist oft hingefallen und hat wohl kaum gehört, dass er dumm sei. Vielmehr haben Eltern den Nachwuchs damals ermutigt, es noch einmal zu versuchen. Genau dasselbe sollten sie nun mit ihren Schulkindern tun – und gern hin und wieder eigenes Scheitern und Wiederaufstehen thematisieren.
Fehler sind Helfer
Etwas noch nicht zu können, führt in der Regel zu Fehlern. Und die werden in der Schule meist abgestraft. Fatal, meinen Lernexperten. „Fehler zeigen, dass wir etwas probieren, an dem wir noch wachsen können“, sagt Therapeutin Kathrin Michel. Caroline von St. Ange plädiert auf ihrem Instagramkanal „Learnlearningwithcaroline“, dem 154.000 Menschen folgen, dafür, Fehler als Zeichen eines Versuchs zu feiern und ihnen damit den Schrecken zu nehmen. So müsse man nur die Buchstaben im Wort Fehler anders anordnen – und schon ergibt sich „Helfer“.
„Ich sehe immer wieder, dass es wichtig ist, nicht so sehr auf den Fehlern herumzureiten, sondern die Stärken des Kindes zu betonen“, sagt Lerntherapeutin Kathrin Michel. Das S sieht noch krakelig aus und das G ist kaum zu erkennen? Dafür steht aber das A tadellos und die I-punkte sind alle da? „Dann bitte das Gute deutlich mehr hervorheben und darauf hinweisen, was schon richtig geschafft wurde. Das macht den Rest einfacher.“Wer dagegen hauptsächlich Fehler rauspicke, verhindere, dass Kinder sich gern verbessern. „Mit jeder Wiederholung des Fehlers werden in diesem Fall Angst und Scham größer – und damit das Unvermögen, aus Fehlern zu lernen“, konstatiert Caroline von St. Ange.
Selbst wenn der Nachwuchs kaum Fehler macht, so schleichen sich doch oft weitere unruhige Gedanken in Elternköpfe. Lernt das Kind auch schnell genug? Muss es in Mathe nicht besser vorangehen? „Alles hat seine Zeit – und lässt sich bei Problemen auch nachholen“, beruhigt Irmgard Slotta, Leiterin des Dresdner Zentrums der Rechenschwäche. Zu ihr kommen Eltern, die sich sorgen, dass ihr Kind an Dyskalkulie leidet. Zwischen drei und acht Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland haben vor allem große Schwierigkeiten, Mengen zu erfassen und zu vergleichen. „Es fällt ihnen beispielsweise schwer zu erkennen, dass in einer Vier vier Einsen versteckt sind, und auch die Drei mit reingehört, die kleiner ist als die Vier“, sagt Irmgard Slotta. Dieses abstrakte Denken zu lernen, kann dauern. In der Schule wird jedoch oft sehr schnell zum Rechnen übergegangen. Eltern können ihre Kinder allerdings recht einfach unterstützen, so die Therapeutin: „Kinder mögen meist Würfelspiele, also kann man sie die Augenzahl ablesen lassen, fragen, wo sich Einsen verstecken. Und im Alltag darauf achten, wo Zahlen vorkommen, die Kinder interessieren: die Anzahl ihrer Pokémonkarten, ihrer Lieblingsfiguren im Hörspiel oder der Pferde auf dem Lieblingsreiterhof.“Das Gute an der Sache: Dyskalkulie ist zwar nicht vollständig heilbar, aber in den Griff zu bekommen. Im Zweifel sollten Eltern ihren Kinderarzt kontaktieren.
Die Mär vom Hänschen
Hinter vielen elterlichen Sorgen steckt nicht zuletzt ein Sprichwort, mit dem unsere Großeltern schon drohten: „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.“Das Wahre daran: Die Grundschule legt für vieles die Basis. Aber sie besteht nicht nur aus den ersten Wochen der ersten Klasse. „Es braucht Monate, wenn nicht sogar das gesamte erste Schuljahr, in die neuen Anforderungen hineinzuwachsen“, sagt Lehrerin Saskia Niechzial. Auch die Hirnforschung beruhigt. Aktuelle Studien haben gezeigt, dass selbst Gehirne älterer Menschen noch gut in der Lage sind zu lernen. Hans hat da übrigens etwas mit Hänschen gemeinsam. Am besten lernt er mit Freude. Ernst darf nur ab und an dabei sein.
Wenn etwas schwer ist, hilft die Frage: „Wie isst man einen Elefanten?“Und die Antwort: „Stück für Stück.“