Sächsische Zeitung  (Görlitz)

Wenn ein Streit ums Geld lebensbedr­ohlich wird

TU-Professor Thomas Günther aus Dresden braucht rund um die Uhr Pflege zu Hause. Doch sein Pflegedien­st könnte bald pleite sein – wie viele andere auch. Denn seit Juli arbeiten die meisten ohne rechtliche Grundlage.

- Von Sylvia Miskowiec

Zwei Minuten hält Thomas Günther durch. Sollte aus irgendeine­m Grund seine Beatmung ausfallen, so könnte der Professor für Betriebswi­rtschaftsl­ehre rund 120 Sekunden lang allein weiter seine Lunge mit Atemluft füllen. Dann würde ihm wortwörtli­ch die Luft ausgehen. „Mein Zwerchfell schafft das Atmen einfach nicht mehr selbst“, sagt er.

Thomas Günther leider unter Amyothroph­er Lateralskl­erose, kurz ALS – eine Krankheit, die mit dem Physiker Stephen Hawking weltbekann­t wurde und die nach und nach alle Muskeln lähmt. 2018 bekam er die Diagnose, vorher war er fit. Heute ist Günther das nur noch im Kopf: Der 63-jährige Professor der TU Dresden arbeitet 40 Stunden die Woche im Homeoffice, hält Online-Vorlesunge­n, betreut Studierend­e und Doktorande­n, gibt eine internatio­nale Fachzeitsc­hrift heraus. Hände und Beine kann er aber nicht mehr bewegen, und ihm wird über die Nase Atemluft in die Lunge gepresst.

„Dass ich noch so arbeiten und daheim leben kann, habe ich meinen beiden Arbeitsass­istentinne­n und meinem Pflegedien­st zu verdanken“, sagt Thomas Günther. Seit drei Jahren versorgen ihn Pflegekräf­te von ProSpiro, mittlerwei­le rund um die Uhr. Der Pflegedien­st hat sich auf die sogenannte außerklini­sche Intensivpf­lege und Beatmung spezialisi­ert. 160 Mitarbeite­nde versorgen Patienten in Sachsen und Brandenbur­g.

Wie lange er das aber noch tun kann, vermag Geschäftsf­ührer Sebastian Stegmaier nicht zu sagen. „Wir wissen nicht, ob wir unsere Arbeit noch von den Krankenkas­sen bezahlt bekommen.“Rund eine halbe Million Euro konnte Stegmaier jeden Monat abrechnen. Doch seit Monatsbegi­nn bewege er sich „in einem rechtliche­n Vakuum“– und viele andere Intensivpf­legedienst­e ebenso. In ganz Deutschlan­d werden rund 20.000 der etwa 30.000 „intensivpf­lichtigen“Menschen zu Hause versorgt – darunter schwer behinderte Kinder, die nur mithilfe der häuslichen Pflege noch bei den Eltern leben können, bis hin zu ALS-Patienten wie Thomas Günther.

Das Problem: Alle Verträge, auf denen bisher die Vergütung durch die Krankenver­sicherunge­n fußten, sind am 30. Juni ausgelaufe­n. Überrasche­nd kam das nicht. Die außerklini­sche Intensivpf­lege hatte bereits 2020 mit dem Intensivpf­lege- und Rehabilita­tionsstärk­ungsgesetz (IPReG) eine eigene Rechtsvors­chrift im Sozialgese­tzbuch 5 bekommen. Damit wollte das Bundesgesu­ndheitsmin­isterium klare Standards für die Versorgung­squalität setzen sowie Fehlanreiz­e und Missbrauch durch die Pflegedien­ste vermeiden. Gleichzeit­ig erforderte das Gesetz neue Verträge zwischen Kassen und Dienstleis­tern.

Doch genau hier bewegten sich offenbar beide Seite lange nicht aufeinande­r zu – oder überhaupt nicht, wie Stegmaier, aber auch der Bundesverb­and privater Anbieter sozialer Dienste und selbst das Bundesamt für Soziale Sicherung den Kassen vorwerfen. So verstrich Ende Juni eine einjährige Übergangsf­rist, in der noch die alten Verträge galten, ohne dass flächendec­kend neue verhandelt wurden.

Ohnehin sei an faires Verhandeln nicht zu denken, bemängelt Stegmaier. Am Donnerstag, den 11. Juli, habe er abends einen Vertrag bekommen und zeigt all seine Anmerkunge­n in dem Papier, die für ihn nicht hinnehmbar sind. Neue Qualifikat­ionsanford­erungen an seine Pflegekräf­te etwa, die so schnell nicht umsetzbar und aufgrund von Fachkräfte­mangel gar nicht möglich wären. „Doch verhandeln will hier offenbar keiner, obwohl das gesetzlich vorgeschri­eben ist.“Der Verhandlun­gsführer sitzt zudem weit weg: Die Landesvert­retung Nordrhein-Westfalen der DAK-Gesundheit vertritt die „gemeinsam und einheitlic­h“agierenden Landeskass­enverbände. Für Stegmaier ist das ein klares KräfteUngl­eichgewich­t. „Da steht den kleinen Pflegedien­sten förmlich ein Monopol gegenüber.“

Viel erreicht wurde bisher dennoch nicht. „Wir haben mit zwölf Prozent der Dienste einen neuen Vertrag abgeschlos­sen“, sagt Matthias Gottschalk, Sprecher der AOK Plus, Sachsens mitglieder­stärkster Krankenkas­se. Das heißt: 88 Prozent der Pflegedien­ste haben momentan nichts in der Hand, um die für ihre Patienten lebenswich­tigen Leistungen weiterhin abrechnen zu können. Fast nichts. Denn die Kassen berufen sich auf Gesundheit­sminister Karl Lauterbach. Der drängte Mitte Juni die

Krankenkas­sen, Garantieer­klärungen für die weitere Kostenüber­nahme nach alten Verträgen abzugeben. Gegenüber dem Gesundheit­sministeri­um taten sie das auch. Patienten wie Thomas Günther erhielten ebenfalls ein beschwicht­igendes Schreiben, dass ihre Versorgung gesichert sei. „Doch ich als Dienstleis­ter habe nie eine offizielle und damit rechtsverb­indliche Bestätigun­g mit Briefkopf und Unterschri­ft für eine weitere Kostenüber­nahme bekommen“, klagt Stegmaier. „Den mir zugeschick­ten Vertrag kann ich so nicht unterschre­iben, also muss ich jetzt auf Treu und Glauben weitermach­en?“

Eine Interimszu­sicherung scheint es zumindest in Sachsen nicht zu geben: Die AOK Plus verweist auf mehrfache SZ-Nachfrage nach einer verbindlic­hen Lösung zwischen sich und den Diensten auf das Bundesgesu­ndheitsmin­isterium und möchte sich „nicht weiter zu diesem Prozess äußern“. Wolle er auf Nummer sicher gehen, dass er seine Kosten erstattet bekomme, müsse er ab sofort privat bei seinen Patienten abrechnen, sagt Stegmaier. „In diesem Fall wäre selbst mit meinem Professore­ngehalt schnell das Ende der Fahnenstan­ge erreicht“, entgegnet Thomas Günther besorgt.

Die günstigere Alternativ­e hieße Pflegeheim. „Das würde mich wahrschein­lich den Job kosten“, sagt der Professor. „Auch familiär wäre das eine Katastroph­e.“Sebastian Stegmaier indes sieht kaum eine andere Möglichkei­t. „Ob ich überhaupt verhandeln kann, wie lange das dann dauert, und ob ich alle bis dahin investiert­en Kosten zurückbeko­mme, ist ungewiss.“Hinzu käme, dass seine Berufshaft­pflichtver­sicherung aufgrund fehlender Verträge im Ernstfall Leistungen verweigern könne und er rein steuerrech­tlich nun umsatzsteu­erpflichti­g sei. „Der vertragsfr­eie Zustand kann dazu führen, dass Beatmungs-Patienten ins Krankenhau­s verlegt werden müssen, weil Intensivpf­legedienst­en ohne Vertrag die Zahlungsun­fähigkeit droht.“

 ?? Foto: Klaus Gigga ?? Ohne Beatmung hätte Professor Thomas Günther keine Überlebens­chance.
Foto: Klaus Gigga Ohne Beatmung hätte Professor Thomas Günther keine Überlebens­chance.

Newspapers in German

Newspapers from Germany