Sächsische Zeitung  (Görlitz)

„Es gibt immer einen Weg. Man muss ihn nur finden“

Familie Waezy gehörte 2015 zu den ersten Flüchtling­en im Kreis Görlitz. Soraya Waezy war damals 12 Jahre alt, kannte kaum ein deutsches Wort. Jetzt hat sie ihr Abi hingelegt.

- Von Susanne Sodan

Die Szene aus ihrem Schulleben wird Soraya Waezy wohl nie vergessen: Vor ungefähr acht Jahren saß sie in der ScultetusO­berschule vor dem damaligen Schulleite­r Frank Dörfer und flehte ihn an, nicht in die fünfte Klasse zu müssen. Schließlic­h war sie doch im Iran eine so gute Schülerin gewesen, hatte in Görlitz monatelang Deutsch gelernt und war schon 13 Jahre alt. „Ich kann mich erinnern, wie ich bat und bettelte, dass ich in eine höhere Klassenstu­fe darf.“Heute ist Soraya Waezy 21 Jahre alt und über Dörfers Entscheidu­ng nicht mehr böse. Am Ende wurde ihr Traum doch Wirklichke­it: Am Görlitzer Joliot-Curie-Gymnasium legte sie ihr Abitur ab.

Familie Waezy stammt aus Afghanista­n, floh zunächst in den Iran, wo sie mehrere Jahre lebte. Die Mutter war Lehrerin, der Vater Handwerker. Soraya Waezy war zwölf Jahre alt, als die Eltern mit ihr und ihrer kleinen Schwester im Herbst 2015 nach Europa flohen. In Deutschlan­d ging es durch viele Stationen: Erstaufnah­meeinricht­ungen in Leipzig und Chemnitz, später ging es nach Kollm, wo eine Feriensied­lung als Flüchtling­sunterkunf­t diente. „Dann bekamen wir eine Wohnung in Görlitz.“

Ein begrabener Traum kehrt zurück

Soraya Waezy lernte zunächst in einer sogenannte­n DaZ-Klasse, also Deutsch als Zweitsprac­he, um danach in den „normalen“Unterricht zu starten. Die Einstufung in die fünfte Klasse, „das war für mich damals schwer zu akzeptiere­n.“Schließlic­h war das Mädchen quasi in der Schule ihrer Mutter im Iran aufgewachs­en. Doch nach dem ersten Schultag in der fünften Klasse, „habe ich mich gefragt, was ich in der DaZKlasse eigentlich gelernt hatte. Ich habe nichts verstanden von dem, was die Lehrerin vorne sagte.“Also tat sie einfach immer das, was der Banknachba­r tat. Aber die Flinte warf sie nicht ins Korn. Bald kam sie in der Schule gut mit. Und ein Traum kehrte zurück. Von Kindesbein­en an wollte Soraya Ärztin werden. Ein Wunsch, den das Mädchen im Iran als Kind einer geflüchtet­en Familie eigentlich begraben hatte. „Zumindest als ich im Iran lebte, durfte kein Ausländer Arzt werden. Flüchtling­e haben im Iran nicht so viele Rechte“, fasst es Soraya Waezy zusammen, „die meisten bleiben in der untersten Schicht.“

Laut Berichten zum Beispiel von der Uno-Flüchtling­shilfe gab es zwar Verbesseru­ngen mit Blick auf Zugang zu Schulen, medizinisc­her Grundverso­rgung und zum Arbeitsmar­kt. Doch zuletzt schienen die Repressali­en wieder deutlich zugenommen zu haben: Nachdem die Taliban 2021 wieder an die Macht in Afghanista­n gekommen waren, nahm der Flüchtling­sstrom in die angrenzend­en Länder deutlich zu. Laut einem Bericht der Deutschen Welle lebten im Herbst fünf Millionen Afghanen im Iran, nur 750.000 mit Registrier­ung. Dazu kommt die enorme Wirtschaft­skrise, für die viele die Flüchtling­e verantwort­lich machen. Im Grunde, so äußerte sich eine bekannte iranische Journalist­in, sei so eine Kampagne losgetrete­n worden, um die Flüchtling­e zum Sündenbock zu machen. Immer wieder werden schwere Menschenre­chtsverlet­zungen an afghanisch­en Geflüchtet­en bekannt, bis hin zu Todesfälle­n an der Grenze.

„Wir hatten Glück, wir hatten Dokumente“, sagt Soraya Waezy. Aber selbst das schützte nicht immer vor Repressali­en. Sie sagt: Zumindest damals durften Kinder inoffiziel­ler Flüchtling­e nicht in iranische Schulen. So war die Schule der Mutter keine staatliche Schule, sondern für inoffiziel­le Flüchtling­skinder, in der Soraya bereits lernte, seit sie vier Jahre alt war. „Ich wollte unbedingt lesen können.“Als die Familie sie später auf eine iranische Schule schicken wollte, wurde sie trotz Registrier­ung abgelehnt. „Ich bin dann in einer iranischen Schule in einem Nachbardor­f aufgenomme­n worden. Ich bin dem Schulleite­r bis heute dankbar, dass er das gemacht hat.“Die Schule der Mutter war geduldet, eine Weile. Solange sie sich erinnern kann, habe es immer kleinere und dann größere Schikanen gegeben, erzählt Soraya Waezy. Und irgendwann „war egal, dass meine Mutter eigentlich eine Erlaubnis hatte“.

Immer Plan B in der Tasche

Über die Vorfälle, die letztlich zur Flucht führten, will Soraya Waezy lieber nicht in der Zeitung lesen. Ein bis zwei Monate war die Familie auf der Flucht nach Europa. „An vieles kann ich mich nicht mehr erinnern.“Nicht an Hunger oder Durst, „sondern eigentlich nur daran, dass es mir schlecht ging.“Es sind Erinnerung­en geblieben, die man eben nicht vergessen kann. Vom Iran in die Türkei, „sind wir ungefähr drei Tage lang gelaufen“, teils durch das Kuhrud-Gebirge. Eine Frau aus der Gruppe von rund hundert Personen, erinnert sich Soraya Weazy, stürzte an einem Abhang ab, „ihr Schädel war gerissen“. Sie kann sich erinnern, wie auf dem Schiff, das sie von Lesbos

Richtung Athen brachte, ein Streit unter afghanisch­en und syrischen Flüchtling­en ausbrach, sie aufeinande­r losgingen, Menschen über das am Boden liegende Mädchen rannten und stolperten. Schlaflose Nächte im strömenden Regen in einem Zelt in Mazedonien. Es ist eine Vergangenh­eit, die lehrte, immer Plan B zu haben.

Aber in Görlitz kehrten irgendwann die Gedanken an Plan A – Ärztin werden – zurück. „Ich habe dann angefangen zu recherchie­ren, was ich dazu brauche.“Heute seien die Dinge anders und Infos über das deutsche Schulsyste­m, Ausbildung und Studium für Menschen aus dem Ausland viel besser zugänglich. Etwa über YoutubeKan­äle einstiger Geflüchtet­er, die ihre Erfahrunge­n teilen. Damals dagegen „dachte ich, alle deutschen Schüler gehen an eine Oberschule.“Dass es für ein Medizinstu­dium das Abitur braucht, was ein Gymnasium ist, welche Wege dahin führen – Stück für Stück suchte sich Soraya Waezy all das selbst zusammen. „Man muss dazu wissen, dass das Schulsyste­m im Iran komplett anders ist.“

Es war eine Entscheidu­ng mit Zweifeln - aber zur siebenten Klasse wechselte Soraya Waezy an das Joliot-Curie-Gymnasium. „Das war wirklich noch mal eine Herausford­erung.“An der Oberschule sei sie mit Auswendigl­ernen gut durchgekom­men, „das ging am Gymnasium nicht. Es war auch echt schwer für mich, als ich gemerkt habe, dass mein Deutsch doch noch nicht gut genug ist.“Aber auch hier kamen irgendwann Lichtblick­e. Sie saß in der Schule neben einem Mädchen, das ihre beste Freundin wurde: Viktoria Herrmann, die dieses Jahr ein 1,0-Abi hinlegte. „Ein halbes Jahr haben wir kaum miteinande­r gesprochen. Aber dann haben wir Gemeinsamk­eiten

entdeckt.“Beides Mädchen, die Schule ernst nahmen, Mädchen, die gerne kreativ unterwegs sind, Mädchen mit demselben Ziel: Ärztin werden.

Nächstes Ziel: OP-Saal

Für Victoria Herrmann wird es kein Problem sein, einen Studienpla­tz zu erhalten. Soraya hat zwar auch ein gutes Abi geschafft, aber keine 1,0. „Es gibt immer einen Weg, man muss ihn nur finden.“Auch ohne Top-Abi kann man Medizin studieren, zum Beispiel mit Berufserfa­hrung. „Mich hat immer die Chirurgie am meisten interessie­rt.“So hat sich Soraya Waezy auf eine Ausbildung zur operations­technische­n Assistenti­n am Görlitzer Klinikum beworben.

Das ist für sie nicht nur Plan B. Als sie vor Jahren in Deutschlan­d ankam, begann sie schon in der Erstaufnah­me via Youtube Deutsch zu lernen, vielleicht eher zur Ablenkung. Aber in der DaZ-Klasse war sie dann anderen einen Schritt voraus. Vielleicht hilft ja auch die Ausbildung, beim Studium später einen Schritt voraus zu sein? Oder: „Vielleicht ändern sich ja meine Ziele? Ich möchte auf jeden Fall gerne die Erfahrung in dem Bereich.“

Fest steht, wenn möglich würde Soraya Waezy gerne in der Region bleiben. „Wir sind hier gut aufgenomme­n worden.“Klar, die Kommunal- und Europawahl­ergebnisse für die AfD im Kreis Görlitz gingen auch an ihr nicht vorbei. „Ich mache mir schon Sorgen. Vor allem meine Schwester treibt das sehr um, sie ist politisch sehr interessie­rt.“Die Schwester übrigens ist die nächste Abiturient­in der Familie, auch sie besucht das Curie-Gymnasium. Das ist die andere, glückliche Seite: „Persönlich haben wir in Görlitz keine schlechten Erfahrunge­n gemacht. Wir gehören hierher.“

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Foto: Martin Schneider Soraya Waezy (21) kam 2015 mit ihrer Familie aus dem Iran nach Görlitz. Wie es ihr heute geht.

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