Streitbares Porträt eines Flusses
Ein neues Buch feiert die Elbe als die geheime Achse Europas, würdigt historische Ereignisse wie Persönlichkeiten. Und es rät, die Waldschlößchenbrücke schön zu finden.
Als geheime Achse Europas, an der der Osten und Westen immer wieder neu aufeinandertrafen, ob nun im Zuge der Reformation, bei der Völkerschlacht von 1813 oder in Torgau, wo amerikanische und sowjetische Truppen sich 1945 über der zerstörten Elbbrücke die Hände reichten, macht Burkhard Müller die Elbe aus. Müller, geboren 1959 in Würzburg lebt seit Langem in Chemnitz, wo er an der Technischen Universität Latein lehrt. Er hat die Elbe von der Quelle im Riesengebirge nahe der Schneekoppe bis an die Mündung in die Nordsee im vergangenen Jahr mehrmals etappenweise bereist, zehn Mal insgesamt, und verfasste ein Porträt dieses Flusses. Er fragt nach der Geschichte der Orte und den Geschichten der Menschen – und erschließt damit nicht nur einen einzigartigen Kulturraum, sondern zeichnet zugleich ein bemerkenswertes Stimmungsbild, auch was die sächsischen Abschnitte der Elbe angeht.
Er macht die Elbe als „Fluss der Fähren“aus, geht aber auch auf einige Brücken näher ein. So etwa auf das Blaue Wunder, die „waagerechte Schwester des Eiffelturms“, aber auch auf die Waldschlößchenbrücke, der er bescheinigt, „eine große Leichtigkeit zu besitzen“und gewiss „keine der schlechtesten“Brücken zu sein. Müller vermerkt: „Der Starrsinn des Unesco-Gremiums, das weitab von ihnen seine Urteile sprach und von dem sie sich erpresst fühlten, weckte den Trotz der Einheimischen.“Nachdem er die Frage aufgeworfen hat, ob etwas immer hundert Jahre alt oder älter sein muss, damit man seine Schönheit begreift, fragt Müller: „Wie wäre es, wir fänden die Waldschlößchenbrücke jetzt gleich schön?“Und gibt dann als Antwort: „Wir würden uns ein ästhetisches Erlebnis bereiten, wo vorher ein Ärgernis war.“
Immer wieder ist Müller so frei, zu eigenen, dem Mainstream entgegenstehenden Urteilen zu kommen, was historische oder aktuelle Ereignisse oder Persönlichkeiten angeht. Beispiel Bismarck. Mal abgesehen davon, dass die Elbe wie erwähnt ein Fluss der Fähren sei, sei sie auch „der Strom Otto von Bismarcks“, dessen persönliche Koordinaten an den Fluss gebunden blieben, „der einen großen Teil seines Lebens für ihn in fußläufiger Entfernung lag“. Es war Bismarck, der die Elbe zur Achse des maßgeblich von ihm geschaffenen einheitlichen Deutschlands machte. Dass die derzeitige Außenministerin, deren Namen Müller nicht nennt, es für gut befunden habe, dem Bismarck-Zimmer im Auswärtigen Amt seinen Namen abzuerkennen, quittiert Müller mit den Sätzen: „Was für ein kurzsichtiger Akt. Ohne Bismarck gäbe es kein Auswärtiges Amt in Deutschland.“Man muss nicht jede Ansicht des Autors teilen, aber den eigenen Blickwinkel zumindest kurzzeitig zu überdenken, schadet ja nicht.
Natürlich spielen das laut Umschlagband „so prächtige wie widersprüchliche“Dresden und sein Umland, die Sächsische Schweiz, Radebeul und Meißen, eine gebührende Rolle, wobei es zwangsläufig nur einzelne Teilaspekte sein können, die Müller herausgreift. Grandios die knappen Ausführungen etwa über Pillnitz, zu dem Müller unter anderem vermerkt, dass die Schlossanlage „aus einer Epoche stammt, als das Wenige, was man von der Fremde wusste, sich noch nicht mit dem Willen zur Herrschaft vermengte, wenigstens nicht, was Ostasien betraf. Hier ist das Andere, dem man Gestalt verlieh, noch gewissermaßen im Modus des Traums befangen“. Das böse Erwachen sei noch früh genug gekommen, Stichwort Kolonialismus, „aber hier noch nicht“.
Der Autor würdigt in seiner gut lesbaren Darstellung des Weiteren die Künstlerin Lili Elbe, die in Dresden bei der vierten Geschlechtsumwandlungs-Operation verstarb, ist aber so frei darauf hinzuweisen, dass das in Buch und Film gefeierte „Danish Girl“Lili Elbe fast völlig von der Person bzw. Figur ausgelöscht wurde. Anders als Frida Kahlo war Lili Elbe keine posthume Karriere als Künstlerin beschieden.
In Meißen schaute sich Müller, wie könnte es anders sein, außer Altstadt und dem Burg-/Dom-Ensemble auch die Manufaktur Meissen an, die er – der Autor hat ein Händchen für griffige Formulierungen – als „Mischung aus Museumsevent und Outlet“bezeichnet.
Meissen habe die Flucht nach vorn angetreten, „es gestattet sich den rettenden Luxus, teuer zu sein.“Die „Zitate aus der Goldenen Zeit des Weißen Goldes“beeindrucken den Autor, bescheinigt der Marke aber, wenig Glück gehabt zu haben, wo sie sich zu verjüngen und das Zeichen der gekreuzten Schwerter für die Gegenwart herzurichten versucht habe. Eine Kaffeetasse, vielmehr einen Mug, mit einem Peace-Zeichen oder dem gekrakelten kobaltblauen Schriftzug „Yes? No? Maybe“sollte, so Müller, „das Haus Meissen besser schwedischen Einrichtungshäusern überlassen, da kriegt man dasselbe für ein Zwanzigstel des Preises“.
Noch süffisanter ist so manches, was Müller über Radebeul und „unsere Indianer“schreibt, das fängt schon mit der Feststellung an, dass der deutsche Osten wie der deutsche Westen vor der Wiedervereinigung ihre eigenen Stammeskulturen aufgebaut hatten. Natürlich bemerkt der Autor, dass man in der Villa Bärenfett „Unsere Indianer“in Anführungszeichen setzt, weil man „Indianer“ja nicht mehr sagt. Aber das schaffe halt auch Probleme. „In der Welt des Karl May und derer, die ihn lieben, war Indianer ein Name ohne Arg, im Gegenteil, es zeichnete ihn aus. Was heute als bessere Alternative vorgeschlagen wird, ,Indigene‘, hat den Nachteil, dass es bloß ,Einheimische‘ bedeutet, Einheimische aber schlechterdings überall vorkommen.“
Ähnlich frank und frei fällt Müllers Urteil über das 1945 errichtete Denkmal zu Begegnung amerikanischer und russischer Truppen in Torgau aus. „Ruhm und Ehre der siegreichen Roten Armee und den heldenmütigen Truppen unserer Verbündeten die den Sieg über das faschistische Deutschland erkämpft haben“steht da. Müller merkt an: „Die Verbündeten sind noch heldenmütig, immerhin; doch ihren Namen erfährt man schon nicht mehr. Dazu muss man die flussabgewandte Rückseite des Monuments aufsuchen.“Der Autor lässt zudem wissen, dass Stalin, dem die bildlich festgehaltene Verbrüderung missfiel, die verantwortlichen Offiziere aus der Partei ausschließen ließ.
Alles in allem ist Müllers Buch ein bemerkenswerter Wurf, allerdings gibt auch so manche inhaltliche Fehler, die den an sich positiven Gesamteindruck ein wenig trüben. Beispiele: Die sächsischen Truppen kapitulierten 1756 zu Beginn des Siebenjährigen Krieges nicht in, sondern unweit der Festung Königstein. Es waren Soldaten der Wehrmacht und nicht der Reichswehr, die 1945 noch rechts der Elbe in Stellung lagen. Und die Bauern im Wendland dürften zu Hochzeiten der Proteste in den 1980erJahren gegen das Atommülllager in Gorleben auf ihren Plakaten nicht „Ist das Schnitzel erst verstrahlt, ihr keinen Cent dafür bezahlt!“geschrieben haben – denn Euro und Cent wurden erst im Jahr 2002 eingeführt. Es mögen Petitessen sein, ärgerlich sind sie trotzdem, was schade ist, denn allein für seine unorthodoxen Urteile muss dem Autor einfach Respekt gezollt werden.