„Ich bin ein Bühnentier“
René Pape gehört zu den besten Opernsängern der Welt. Am 4. September feiert er seinen 60. Geburtstag. Seinen Ruhepunkt findet er in Dresden-Hosterwitz.
Es ist unverschämt schön hier. René Pape sitzt auf der Terrasse seines Hauses im Dresdner Stadtteil Hosterwitz, sieht über die Elbwiesen zum sanft strömenden Fluss hinab. Der Opernsänger nippt am morgendlichen Doppelespresso. Dann schippert ein Schaufelraddampfer der alten „Weißen Flotte“am sonnigen Ausblick vorbei. Dahinter üppiges Grün. Als wäre das nicht schon genug, schweben auch noch Schwalben himmelhoch piepend hin und her. „Das meine Heimat nennen zu dürfen ist schon verflucht romantisch“, sagt der 59-Jährige.
Es könnte das Herz überschwappen in diesem Augenblick rührseliger Stimmung. Der zweimalige Grammy-Gewinner, der am 4. September 60 wird, nippt an seinem Koffeindope, als würde ihn dieser Tausendstelmoment erfüllter Sehnsucht nicht besonders anheben. Dann sagt er aber: „Hier bin ich wirklich zu Hause.“Der Bass nimmt es gelassen, wenn einer satirisch meint, er sei der Typ Türsteher. Der Pape von Dresden interpretierte 2003 mit den Dresdner Sinfonikern in der Tradition von Gustav Mahlers Kindertotenliedern Rammsteins Lyrik des Songzyklus‘ „Mein Herz brennt“. Das passt perfekt zum gepflegten Image der Rauschaligkeit und gleichwohl zu seiner Stimmgewalt. Mit der eruptionsartigen Gravität seines Basses fegt der Meistersinger nach wie vor pur alles weg.
Zeilen aus dem Rammstein-Lied heißen: „Ich bin die Stimme aus dem Kissen. Sie kommen zu euch in der Nacht, Dämonen, Geister, schwarze Feen, sie kriechen aus dem Kellerschacht und werden unter euer Bettzeug sehen.“Neben aller geisterhaft verbreiteten Furcht, die für ein ordentliches Kindheitstrauma reichen sollte, verbindet sich selbst die härteste Kissenschlacht unvermittelt mit etwas Kuscheligem. Aus Widerspruch entsteht Kunst. Natürlich. Der Heimatort des Sachsen scheint neben dem Berufsstress ein weiches Kissen zu sein. Er sagt: „Ich gebe zu, dass ich so langsam in die Genussphase meines Lebens komme, kann die Früchte meiner Arbeit endlich genießen.“Manchmal läuft er rüber zu seinem Kumpel um die Ecke, ein Steinmetz, mit dem er ewig quatschen kann. Gern fällt er auch mal mit einem anderen Freund, mit dem er auch gut reden kann, einen Baum oder tuckert mit seinem Rasentraktor über die Wiese in seinem Garten. „Im Grunde will ich hier einfach meine Ruhe haben, um Kraft tanken zu können“, sagt er.
Nicht immer sei ihm das in den vergangenen Jahren bei der Hast zwischen den flugmeilenweit verteilten Bühnen gelungen. Sein Leben funktioniere nach Kalender, nach Rollen, nach Verpflichtungen, die oft fünf Jahre im Voraus geplant sind. Mit 24 Jahren bekam er sein erstes Engagement an der Staatsoper Unter den Linden in Berlin, wo er bis heute Ensemblemitglied ist. 1994 sang er erstmals in Bayreuth, seit 1995 an der MET, 1997 im Royal Opera House in London, 1998 an der Opéra National de Paris. Sein Leben der vergangenen 35 Jahre bestand vor allem aus Partituren, Proben und Vorstellungen in Berlin, München, Salzburg, Wien, London, Paris, Mailand, Tokio, Chicago, St. Petersburg und New York. Und es bestand aus Abflugzeiten, weniger aus Ankunft. Es blieb kaum Zeit, darüber nachzudenken, dass er zwischen Zeitzonen, Premieren und Beifall auch mal einen Ruhepunkt braucht. Darunter litt nie die Kunst, aber vieles andere.
Neben Berlin gehöre New York zu den wichtigsten Städten seiner Karriere. Die amerikanische Metropole sei cool, schnell, offen, aber auch extrem kurzatmig, habe sich seit dem Anschlag vom 11. September 2001 stark verändert. Die New Yorker verehren den Dresdner wie einen Popstar. Als einziger Deutscher erhielt er in den USA die Auszeichnung „Vocalist of the Year“
Wo Kunst entsteht Eine Serie der Sächsischen Zeitung
und wurde „Mastersinger of the MET“. Im März 2025 werde er wieder in New York an der Metropolitan Oper singen, sagt Pape.
In seinem Refugium, der Dresdner Traumvilla, die er 2007 kaufte, gelingen dem Opernwelt-Reisenden jetzt immer öfter Ruhephasen. In den Boden des Foyers des Hauses ließ der Sänger, von 1974 bis 1981 Mitglied des Kreuzchores, Buchstaben einsetzen: „Zum Raum wird hier die Zeit.“So antwortet in Wagners Oper Gurnemanz Parsifal, als der sagt: „Ich schreite kaum, noch wähn‘ ich mich schon weit.“Ein Ort der Kunst. Einfach so wie nebenbei und doch ganz bewusst gewählt.
Hier besuchen Freunde den Freund, wie der Mitbegründer der Dresdner Sinfoniker Sven Helbig. So auch in diesen Tagen. Beide besprechen ein neues Projekt. Die Terrasse mit der unverschämt romantisch schönen Aussicht wird unversehens zum Ort eines kreativen Dialogs. René Pape sagt: „Allerdings ist es eine verklärte Vorstellung, dass hier der einzigartige Raum für Kunst wäre. Letztlich ist das ein Prozess an völlig verschiedenen Plätzen. Dieser Prozess bedeutet für mich lange Recherche und vor allem lernen, lernen, lernen. Ich bin der Interpret von Kompositionen, die schon existieren, und muss in sie eindringen, verstehen und meine Variation daraus entwickeln, muss mir alles einprägen. Talent ist ein Geschenk, es zu Kunst werden zu lassen, ist nichts weiter als harte Arbeit.“
Sechs bis sieben Partien hat er jederzeit sofort abrufbereit. Aber es sei irrig anzunehmen, er sitze zu Hause in einem bequemen Sessel, um sich zur Vorbereitung einer Premiere vom Plattenspieler Verdi oder Wagner anzuhören. Vielmehr sitze er oft im Flugzeug, die Earpods in den Ohren, um sich bei Youtube ein Video reinzuziehen. Immer und immer wieder. Der Text müsse sitzen, Atemtechnik funktionieren, um Phrasen länger gestalten zu können. „Ich übe permanent die Fähigkeit, über die Kommas hinwegsingen zu können oder sie bewusst zu setzen. Im Übrigen müssen die Stimmbänder trainiert werden. Das ist wie im Hochleistungssport. Ich brauche inzwischen längere Phasen der Erholung.“
Er lerne oder frische zudem die verschiedenen Fremdsprachen des jeweiligen Librettos und die Intonationen auf. Im Juli und September singt er an der Berliner Staatsoper in Giacomo Puccinis „Turandot“und im Oktober in Giuseppe Verdis „Nabucco“. Die Premiere am 2. Oktober ist schon jetzt ausverkauft. Am besten beherrsche der einstige Kruzianer neben seiner Stimme die Körpersprache, so sagt er. Er mag es, auf der Bühne seine Figuren Geschichten erzählen zu lassen, egal, ob ganz klassisch oder modern. Allerdings vertrage der Sänger keine pseudointellektuellen Von-hinten-durch-die-Brust-Adaptionen. Er sagt: „Die Bühne ist für mich ein Raum für die Inszenierung von Fantasie, keine Therapiestation für die öffentlich ausgetragenen Psychosen eines Einzelnen.“In neuen Inszenierungen würden oft viel Technik, überbordende Videos das Handwerk der Künstler überdecken. „Ich möchte nicht die Staffage einer Regieidee sein, ich bin ein Bühnentier oder einfach gesagt ein Charakter.“Diese öffentlich ausgetragene Kritik an zeitgenössischem Umgang mit Opern von Wagner, Mozart oder Verdi trifft mitten in eine große Debatte um die Kunst. Er bemerke, wie jüngere Kollegen, auch aus wirtschaftlichen Zwängen, Rollen übernehmen, sich kaum trauen, Kritik zu äußern an den Neuinterpretationen. Er selbst werde sicherer, sein Bass profunder, gefestigter und er selbst abgeklärter.
Jetzt holt René Pape von einem Regal aus der Küche einen Hoptimisten. Auf einem kleinen Körper sitzt eine Feder, darauf ein Kopf samt lächelndem Gesicht, es wackelt, springt nach oben und unten. In den 1960er-Jahren schuf der dänische Holzdrechsler Hans Gustav Ehrenreich die ersten Prototypen für Birdie, Bimble und Bumble. Sie sollten Freudenspender in turbulenten Zeiten sein.
Es gibt 60 Jahre später zig Wackelkandidaten, zum Beispiel den Prince Hoptimisten, den Smiley Cool Hoptimisten und ganz neu zur Fußball-EM den Roligan Germany Hoptimisten. Die Dinger sind der perfekte Party-Starter für das nächste Länderspiel oder den Geburtstag. Egal, was passiert, der Typ lächelt immer, unverdrossen, wie das Leben auch spielt. René Pape meint, er habe immer alles genommen, wie es kam. „Jede Entscheidung, die ich getroffen habe, war in dem Moment, wo ich sie getroffen habe, richtig. Und wenn es vorbei ist, dann ist es vorbei.“