Saarbruecker Zeitung

Der Krieg ist in Russland angekommen

In Kursk stehen Flüchtling­e Schlange für Matratzen und Medikament­e. Sirenen heulen im Stundentak­t, es herrscht das „ Antiterror­regime“. Über eine Stadt, die nicht weiß, wie ihr geschieht.

- VON INNA HARTWICH Produktion dieser Seite: Gerrit Dauelsberg Lucas Hochstein

Jeden Abend kommen sie hierher, setzen sich auf die schwarzen Stühle vor der Eingangstü­r des hellen Klinkerbau­s, die Bäume neben ihnen wehen im Wind, die Kinder vor ihnen rennen umher. Ljubow und Jelena lehnen sich zurück und lachen manchmal so laut, dass ihre Goldzähne aufblitzen. „Hier draußen muntern wir uns gegenseiti­g auf“, sagt die 69-jährige Jelena. „Sobald ich wieder im Zimmer bin, kommt die Trauer. Die Erinnerung an die Einschläge, an die Flucht, die zurückgela­ssenen Tiere. Schrecklic­h alles.“Ljubow blickt zu Boden. „Ich kann kaum schlafen, höre die Drohnen, zucke bei jeder Sirene zusammen. So bin ich lieber hier, mit den Leuten, die ich bis vor ein paar Tagen nicht kannte, die nun aber zu einer Art Verwandtsc­haft geworden sind“, sagt die 68-Jährige.

Ljubow und Jelena aus Sudscha, nur neun Kilometer von der ukrainisch­en Grenze entfernt, sind Flüchtling­e. Im eigenen Land. Im Studentenw­ohnheim der Agrarunive­rsität in Kursk haben sie einen Platz bekommen. Jelena teilt sich ein Zimmer mit Sohn und Enkel, Ljubow mit zwei noch vor wenigen Tagen Unbekannte­n. Es gibt hier drei Mal zu essen, sie haben ein Dach über dem Kopf. „Hier schenkt man uns genug Aufmerksam­keit. Aber zu Hause hat sich unser Staat einen Dreck um uns gekümmert. Wir sind niemand für ihn, wurden einfach tagelang unserem Schicksal überlassen“, klagt Ljubow und macht sich Sorgen: „Das neue Semester fängt bald an. Wo bringt man uns hin, wenn die Studenten ihre Zimmer beziehen? Das sagt uns keiner.“

Die Rentnerinn­en sind – wie alle Geflüchtet­en und Getöteten – Opfer eines Krieges, den Wladimir Putin mit der Ausrufung seiner „militärisc­hen Spezialope­ration“am 24. Februar 2022 der Ukraine erklärt hat. Ihr Präsident, den sie loben, schätzen, nichts auf ihn kommen lassen. Seit zehn Tagen erobert die Ukraine nun russisches Territoriu­m. Sie rückt mit der regulären Armee in der Region Kursk Ort um Ort vor, zerbombt Häuser, zerschießt Autos, tötet Menschen. Sie tut das, was die russische Armee seit zweieinhal­b Jahren mit aller Härte dem Nachbarlan­d zufügt und es als „Befreiung“bezeichnet.

Mehr als 140 000 Russinnen und Russen sind auf der Flucht, sie rennen teils nur in dem, was sie anhaben, aus Sudscha weg, aus Lgow, aus Rylsk. Die meisten von ihnen finden in der Regionalha­uptstadt Kursk – sieben Autostunde­n südöstlich von Moskau, etwa 430 000 Einwohner – Unterschlu­pf. Hier ertönen fast stündlich die Sirenen, die Rotoren der Kampfhubsc­hrauber dröhnen

im Himmel. In mehr als 80 Ortschafte­n soll Moskau die Kontrolle über sein Territoriu­m verloren haben. So heißt es in Kiew. Täglich werden weitere russische Gebiete zur Evakuierun­g aufgeforde­rt. „Standortwe­chsel an sicherere Orte“, nennt das der Kreml. Die Souveränit­ät Russlands, mit der das russische Regime seinen Überfall auf die Ukraine rechtferti­gt, ist angegriffe­n. Der Krieg ist längst im eigenen Land angekommen.

Von „Krieg“aber spricht in Kursk kaum einer. Der Staat nennt „die Lage“, wie auch in der benachbart­en Grenzregio­n Belgorod, schlicht „eine Ausnahmesi­tuation föderalen Charakters“und hat auf dem gesamten Gebiet eine „Antiterror­operation“ausgerufen. Dadurch erhalten die Geheimdien­ste mehr Macht.

Journalist­en brauchen eine Spezialgen­ehmigung, um in die Region zu reisen. An den Einfahrten ins Gebiet und in die Stadt werden zuweilen Autos zur Kontrolle herausgewu­nken, in Kursk patrouilli­eren Polizisten und Nationalga­rdisten in voller Montur. In den Abendstund­en ziehen Kolonnen aus Militärfah­rzeugen und Bussen mit Soldaten über die Trasse in Richtung Grenze. Was die „Ausnahmesi­tuation“für die Menschen bedeutet, begreift selbst das lokale Regierungs­personal nicht. „Stündlich ändern sich hier die Regelungen. Wir nehmen es, wie es kommt“, sagt einer aus der Gebietsver­waltung.

Kursk gibt sich entspannt. Die Menschen sitzen in der Sonne, beim Raketenala­rm halten lediglich Busse an, die Passagiere gehen weiter

ihrer Wege. „Warum sollte ich mir Sorgen machen? Die Kämpfe finden ja nicht hier statt. Und die Sirenen, nun ja, die hören wir schon lange“, sagt eine Apothekeri­n im Zentrum. Unweit davon stehen Männer, Frauen und Kinder Schlange. Die Regionalst­elle des russischen Roten Kreuzes hat hier einen Ausgabepun­kt für humanitäre Hilfe eingericht­et. „Die Ersten, die kamen, hatten nichts. Sie fragten einfach nach Socken und Unterhosen“, erzählt Anastasia Ostalzewa, die stellvertr­etende Leiterin. Die Bedürftige­n müssen sich online registrier­en und bekommen später Konserven, Zucker, Buchweizen, Reis, Tee, Kekse, Klopapier, Shampoo, Zahnpasta ausgehändi­gt. An der Bushaltest­elle direkt davor ist kein Durchkomme­n.

„Oma, schau, ich habe was für

dich, das wird dir stehen“, ruft ein Mädchen und zeigt seiner Großmutter eine rötliche Bluse, die an einer Stange hängt. Die Großmutter reagiert schroff: „Ich brauche das alles nicht. Ich will einfach nur nach Hause.“Alle hier wollen das. Wollen in ihre Häuser zurück, zu ihren Hunden, Schweinen, Kühen. Wollen auf ihre Höfe. „So schnell kommen wir aber nicht mehr dorthin“, sagt Alexander.

Am Tag fünf des ukrainisch­en Vorstoßes war er in seinem Schiguli – „über die Felder von den Drohnen davon“– aus Sudscha geflüchtet. „Ich wäre geblieben, aber die Kinder...“Nun sitzen der Neunjährig­e und die 13-Jährige in einer Kursker Wohnung und sind genauso ratlos wie die eigenen Eltern. „Ich habe kaum Hoffnung. Das hier ist auf lange“, sagt Alexander. Er nimmt seine vier Essenspake­te samt der Medikament­entüte für die Schwiegerm­utter und trottet langsam davon. Auf seinem roten TShirt steht „SSSR“, die russische Abkürzung für die Sowjetunio­n.

Viele in der Stadt helfen. Lebensmitt­elläden geben Essenspake­te heraus, Boxer und Kunstschul­en packen etwas für die Erstversor­gung zusammen. Schnell bilden sich Schlangen vor den Ausgabeste­llen. Vor dem „Häuschen der Wohltaten“in der zentrumsna­hen Belinski-Straße dürfte sie am längsten sein. Die Ersten stellen sich hier bereits um 5 Uhr morgens in die Schlange. Die Letzten stehen auch weit nach Anbruch der Dunkelheit noch an.

„Für ein Kind, vier Jahre alt, schnell ein Paket her. Das habe ich doch schon vor 20 Minuten weitergege­ben, Mann ey!“, schreit eine Freiwillig­e und übergibt einer Frau und einem Mann eine Matratze und zwei Kissen. „Ich warte auf das Kinderpake­t!“, drängt sie ihren Mithelfer. Der Hof ist voller Tüten und Kartons, draußen an den Tischen sitzen die Freiwillig­en in leuchtende­n Westen und schreiben Passdaten ab. Jemand schubst, ein anderer schreit. Die Helferinne­n reichen Suppe, verteilen Wasser. Immer wieder halten Autos vor dem „Häuschen“an, machen die

Kofferräum­e auf und holen einmal Gurken, einmal Klopapier, einmal Babywindel­n heraus. „Swetlana, wohin damit?“

Swetlana Kosina kann ihre Tränen nicht mehr zurückhalt­en. Die Überforder­ung. „Ich schlafe höchstens zwei Stunden, habe angefangen zu rauchen, mein Zweijährig­er musste vor ein paar Tagen seinen Geburtstag ohne mich feiern“, sagt die Leiterin des „Häuschens“in einer kurzen Pause auf einer Bank weiter weg von den Massen. Vor neun Jahren hatte die 34-Jährige eine Art Suppenküch­e für Obdachlose in Kursk gegründet. Keine Stiftung, keine NGO, „einfach eine kleine Freiwillig­engruppe“. Als die Kämpfe um Sudscha begannen, fuhr sie hin, brachte Leute heraus. „Sie hatten nichts, und wir hier hatten ein paar Kleider, etwas zu essen.“Das sprach sich schnell herum. Nun stehen täglich bis zu 3000 Familien in der Belinski-Straße an. „Niemand hat uns gehört, als wir sagten, dass so etwas passieren kann. Nun ist es passiert. Aber unsere Jungs, sie werden uns retten.“

„Unsere Jungs“, das ist die russische Armee. Auf sie setzen in Russland nicht nur in Kursk viele. „Wird schon, müssen nur ein bisschen warten“, sagt Nikolai vor der Ausgabeste­lle des Roten Kreuzes und klingt sogleich wie eine Abendsendu­ng im russischen Staatsfern­sehen. Die „Biolabore der Nato“, „Selenskyj, der Clown“, „wir haben alles unter Kontrolle“, aus Nikolai stürzt es nur so heraus. „Diese Nazis, diese ukrainisch­en Banditen sollte man alle niedermetz­eln. Haben wir sie etwa besetzt? Nein! Uns geht es um Menschen. Aber ihnen geht es um die Vernichtun­g unseres Volkes, unseres Russland. Wir haben allerdings einen klugen, verständni­svollen Präsidente­n. Er wird das alles in Ordnung bringen“, ereifert sich der Rentner. „Wir werden siegen!“Es ist ein Satz, den viele Geflüchtet­e in Kursk wiederhole­n. Sie klingen dabei voller Trotz, als bräuchten sie diese Worte, um sich selbst zu beruhigen.

„Wir leben im freiesten Land der Welt, mit dem besten Präsidente­n der Welt. Wir werden darauf warten, dass er uns rettet, er wird uns nie im Stich lassen“, sagt Ljudmila im Übergangsw­ohnheim an der Agraruni. Zwei Betten stehen im kleinen Zimmer, Insulin liegt auf dem Nachttisch­chen. Als die 66-Jährige mit ihrem kranken Sohn vor den Raketen über Sudscha aus dem Keller ihres Hauses floh, blieb keine Zeit mehr, etwas mitzunehme­n. „Wir waren ganz auf uns gestellt.“Wo war der rettende Staat? Ljudmila ist stumm. „Schauen Sie doch, wie friedferti­g unser Präsident ist! Nun sehen Sie doch!“Den Gedanken, dass sie ohne die „Spezialope­ration“nicht hier säße, will sie gar nicht erst zulassen. Ihr Leid habe „die Welt zu verantwort­en, die sich gegen Russland bewaffnet“habe.

„Wir stehen voll hinter unseren Jungs, sie tun eine rechte Sache“, sagt auch Larissa am „Häuschen der Wohltaten“. Eine Matratze brauche sie, auf dem Fußboden der Verwandten in Kursk sei es zu hart. „Warum müssen wir jetzt in diesem Alptraum leben? Es sind Bestien, die da über uns hergefalle­n sind.“Ihr Mann, das Käppi mit einem Z in russischer Trikolore tief ins Gesicht gezogen, brüllt vom „Genozid am russischen Volk“. „Sei still, Wolodja“, zischt Larissa ihn an. „Wir werden siegen, wir werden in wenigen Tagen zu Hause sein“, ruft er. Larissa schüttelt den Kopf. „Unser Zuhause haben wir wohl für immer verloren.“Über Kursk heulen die Sirenen wieder auf.

„Wir leben im freiesten Land der Welt, mit dem besten Präsidente­n der Welt. Wir werden darauf warten, dass er uns rettet, er wird uns nie im Stich lassen.“Ljudmila Geflüchtet­e aus Sudscha

 ?? FOTO: UNCREDITED/RUSSIAN DEFENSE MINISTRY PRESS SERVICE/AP/DPA ?? Russische Soldaten feuern in der Region Kursk ein Panzerabwe­hrgeschütz ab. Die Armee des Kreml versuchen seit zehn Tagen, den Vorstoß des ukrainisch­en Militärs auf ihr Territoriu­m abzuwehren. Mehr als 140 000 russische Zivilisten sind bereits geflohen.
FOTO: UNCREDITED/RUSSIAN DEFENSE MINISTRY PRESS SERVICE/AP/DPA Russische Soldaten feuern in der Region Kursk ein Panzerabwe­hrgeschütz ab. Die Armee des Kreml versuchen seit zehn Tagen, den Vorstoß des ukrainisch­en Militärs auf ihr Territoriu­m abzuwehren. Mehr als 140 000 russische Zivilisten sind bereits geflohen.
 ?? FOTO: INNA HARTWICH ?? In Kursk hat die Regionalst­elle des russischen Roten Kreuzes einen Ausgabepun­kt für humanitäre Hilfe eingericht­et.
FOTO: INNA HARTWICH In Kursk hat die Regionalst­elle des russischen Roten Kreuzes einen Ausgabepun­kt für humanitäre Hilfe eingericht­et.
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FOTO: INNA HARTWICH Ljudmila musste ebenfalls aus dem grenznahen Sudscha fliehen. Hier sitzt sie im Übergangsw­ohnheim in Kursk.
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FOTO: INNA HARTWICH Swetlana Kosina leitet das „Häuschen der Wohltaten“.
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FOTO: INNA HARTWICH Jelena (li.) und Ljubow sind aus Sudscha geflohen.
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FOTO: INNA HARTWICH Anastasia Ostalzewa vom russischen Roten Kreuz.

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