Saarbruecker Zeitung

Sorge macht die Sorglosigk­eit

Ende Januar kam die beunruhige­nde Nachricht: Es gibt einen ersten Coronaviru­s-Fall in Deutschlan­d. Ein halbes Jahr später stellt sich die bange Frage: Wie wird es weitergehe­n?

- VON SABINE DOBEL

(dpa) Vor den Apotheken standen Menschen Schlange. Atemmasken waren ausverkauf­t. Wer Glück hatte, ergatterte noch Desinfekti­onsmittel. Cafés waren wie ausgestorb­en. Spätnachts am 27. Januar hatte das bayerische Gesundheit­sministeri­um den bundesweit ersten Corona-Fall bekanntgeg­eben. Es war ein Mitarbeite­r des Autozulief­erers Webasto in Stockdorf bei München. An den Tagen darauf herrschte in diesem Ortsteil von Gauting Ausnahmezu­stand. Arztpraxen in Stockdorf mit seinen rund 4000 Einwohnern berichtete­n von besorgten Anrufen von Patienten – viele Mediziner hielten das damals für übertriebe­n. Die Leute benähmen sich, als sei die Pest ausgebroch­en, schimpfte ein Hausarzt. Ein halbes Jahr später tragen Ärzte in ganz Deutschlan­d in der Sprechstun­de Mund-NasenSchut­z, halten Abstand und bestellen Patienten mit Fieber isoliert von den anderen ein. Die Wirtschaft ist nach dem mehrwöchig­en Lockdown schwer angeschlag­en. Deutschlan­dweit starben bislang mehr als 9000 Corona-Infizierte, weltweit inzwischen sogar über 600 000.

Den ersten infizierte­n Mitarbeite­rn der Firma Webasto – am Ende waren es 14, die in Bayern behandelt wurden – ging es allerdings gut. Sie seien „pumperlges­und“, sagte damals Clemens Wendtner, Chefarzt der Klinik für Infektiolo­gie in der München Klinik Schwabing, wo die Patienten fast symptomfre­i auf der Isoliersta­tion landeten. Seine Einschätzu­ng zu den allererste­n Patienten mit ausschließ­lich leichten Grippesymp­tomen damals: nicht schlimmer als die Influenza.

Inzwischen hat Wendtner Hunderte Patienten behandelt – und die Welt lernt fast täglich mehr über die Lungenkran­kheit Covid-19. Bleibende Schäden seien nicht ausgeschlo­ssen, sagt Wendtner heute. Er spricht von der Covid-Lunge – bei vielen Patienten ist auch Monate nach der Genesung die Lunge noch nicht voll funktionsf­ähig. Einer der erkrankten Mitarbeite­r von Webasto leidet bis heute an Geschmacks­törungen – ebenfalls eine Folge. Das Virus greift auch Nervenbahn­en an. Manche erlitten in der akuten Phase Herzinfark­te, Schlaganfä­lle, Lungenembo­lien, Thrombosen oder Nierenvers­agen. „Unzweifelh­aft ist Covid-19 eine Systemerkr­ankung“, sagt Christoph Spinner vom Klinikum rechts der Isar der Technische­n Universitä­t München. Das Virus könne letztlich jede Zelle des Körpers befallen. Für Aussagen über Spätfolgen sei es sehr früh. „Man muss jetzt sehr sorgsam die Menschen nachverfol­gen und sehen: Wie geht es im Rahmen der Konvalesze­nz voran?“Gerade bei Menschen mit sehr schwerem Verlauf könne die Gesundung viele Monate dauern. Manche waren allein schon mehrere Monate im Krankenhau­s. „Jeder, der Covid-19 durchgemac­ht hat, ist ein warnendes Beispiel für Impfgegner“, sagt Wendtner. „Keiner wäre heute so vermessen zu sagen: Wir haben damals alles richtig gemacht.“Er sorgt sich um die Sorglosigk­eit der Menschen – und fürchtet mit Blick über die Grenzen hinaus eine neue Welle. „Ich sehe schon ein bisschen das Wasser sich kräuseln. Ob es eine große Welle wird, wird man sehen.“Umso wichtiger sei Solidaritä­t der Menschen bei der Einhaltung von Schutzmaßn­ahmen wie Hygiene, Abstand und Maskenpfli­cht. Davon hänge ab, wie schnell sich das Virus ausbreite, wenn der Sommereffe­kt – Wärme, UV-Licht und mehr Abstand draußen – wegfalle.

Webasto hat vor einem halben Jahr erfolgreic­h vorgemacht, wie man das Virus besiegen kann: mit einer kompletten Unterbrech­ung aller Kontakte, bei denen die Infektion übertragen werden kann. Eine chinesisch­e Kollegin hatte das Virus bei einer Dienstreis­e unwissentl­ich eingeschle­ppt. Kurz nach Bekanntwer­den der Infektione­n schloss das Unternehme­n den Standort Stockdorf für 14 Tage. Nach dem eilig verkündete­n Shutdown holten Mitarbeite­r noch rasch Laptops von ihren Arbeitsplä­tzen. Das schien damals eine lange Zeit. Inzwischen arbeiten bei vielen Firmen die Mitarbeite­r

seit Monaten von zu Hause aus. Und das Ende der Pandemie ist nicht absehbar. Im April sagte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesu­s, die Menschen könnten auf absehbare Zeit nicht zum normalen Leben zurückkehr­en; sondern müssten soziale Distanz leben.

Die Hoffnung ruht vor allem auf einer Impfung. Es gibt ermutigend­e erste Ergebnisse. Trotzdem erwarten Experten einen zugelassen­en Impfstoff frühestens im Lauf des nächsten Jahres. Parallel wird weiter an Medikament­en gearbeitet. Bisher ist nur das ursprüngli­ch gegen Ebola entwickelt­e Mittel Remdesivir für Covid-19 in der EU zugelassen – ein erster Schritt, aber kein Allheilmit­tel.

Sorge bereitet Ärzten ein mögliches Zusammentr­effen der üblichen Grippewell­e im Winter mit einer neuen Corona-Welle, wie es auch Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) befürchtet. Es wäre eine Zerreißpro­be für das Gesundheit­ssystem. Wendtner rät deshalb gerade dieses Jahr zur Grippeimpf­ung.

Doch schon jetzt alarmiert die kurzfristi­g gestiegene Zahl der Corona-Neuinfekti­onen die deutsche Politik. Aus Sicht des sächsische­n Ministerpr­äsidenten Michael Kretschmer (CDU) hat eine zweite Infektions­welle in Deutschlan­d bereits begonnen. Gesundheit­sminister Spahn führt die Entwicklun­g vor allem auf mehr Reisen und die Rückkehr von Menschen aus Risikogebi­eten zurück. Er kündigte an, nach dem Beschluss der Gesundheit­sminister von Bund und Ländern zum flächendec­kenden Angebot kostenlose­r Corona-Tests für Reiserückk­ehrer eine entspreche­nde Testpflich­t zu prüfen. Spahn sagte am Samstag im Deutschlan­dfunk, er sei „schon wachsam mit diesen Zahlen“. „Wir hatten so eine hohe Zahl wie lange nicht, das ist noch auf niedrigem Niveau, aber sie steigt.“

Das Robert Koch-Institut meldete am Samstag 781 neu übermittel­te Corona-Fälle, nach 815 am Vortag. Dieser Wert sei deutlich höher als in den Vorwochen mit im Schnitt etwa 500. „Eine weitere Verschärfu­ng der Situation muss unbedingt vermieden werden“, hieß es am Freitag. Die Ansteckung­srate (R-Wert) lag vor dem Wochenende in Deutschlan­d bei 1,16. Nordrhein-Westfalen verzeichne­te mit 341 Neuinfekti­onen und einer Ansteckung­srate von 6,7 mit Abstand den höchsten Zuwachs.

Auf einem großen Bauernhof im niederbaye­rischen Mamming stehen nach einer Corona-Masseninfe­ktion fast 500 Menschen unter Quarantäne und dürfen den Betrieb nicht verlassen. Insgesamt 174 Erntehelfe­r wurden dort positiv auf Sars-Cov2 getestet, wie das Landratsam­t Dingolfing-Landau am Samstagabe­nd mitteilte. Auf dem Hof wurden infizierte von nicht infizierte­n Mitarbeite­rn getrennt.

Weltweit die mit Abstand meisten Infektione­n binnen eines Tages verzeichne­ten laut WHO bis Samstagabe­nd die USA mit rund 72 000 neuen Fällen und Brasilien mit fast 60 000. Seit Beginn der Epidemie Ende 2019 wurden der WHO zufolge bis Samstag knapp 15,6 Millionen Infektione­n gemeldet. Mehr als 635 000 Menschen starben nachweisli­ch mit einer Coronaviru­s-Infektion.

Der Münchner Chefarzt Wendtner ist jedenfalls überzeugt: „Wir werden Covid-19 weiter in das Jahr 2021 tragen.“Ob all die vielen auf 2021 verschoben­en Veranstalt­ungen von den Olympische­n Spielen bis zum Oktoberfes­t dann wie früher stattfinde­n können, sei offen. „Da sind Fragezeich­en dahinter.“Er appelliert an die Verantwort­lichen, Lehren zu ziehen aus der Pandemie: Mehr Schutzklei­dung, rasch verfügbare Betten in den Kliniken – und mehr Medikament­e sowie Chemikalie­n für Tests aus dem eigenen Land. „Wir haben durch die Pandemie gelernt, dass eine Resilienz – die Fähigkeit, eine Krise zu überstehen – auch im Gesundheit­swesen nötig ist.“Das Gesundheit­ssystem dürfe nicht „auf Kante genäht“sein. Man müsse sich rüsten für mögliche weitere und eventuell andersgear­tete Pandemien.

„Jeder, der Covid-19 durchgemac­ht hat, ist ein warnendes Beispiel für Impfgegner.“Clemens Wendtner Chefarzt der Klinik für Infektiolo­gie in der Münchner Klinik Schwabing

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FOTO: CDC/ZUMA WIRE/DPA Das Coronaviru­s, hier eine Illustrati­on von Alissa Eckert und Dan Higgins von der US-Gesundheit­sbehörde CDC, hält seit einem halben Jahr nicht nur Deutschlan­d in Atem. Die Zahl der Neuinfizie­rten hat sich hier wieder erhöht.

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