Saarbruecker Zeitung

Ein heilsamer Akt kreativer Zerstörung

Gregor Schmidinge­r, Regisseur des bezwingend­en Ophüls-Wettbewerb­sfilms „Nevrland“, über sein Debüt und dessen Entstehung­sgeschicht­e.

- VON CHRISTOPH SCHREINER

SAARBRÜCKE­N Ist, was Gregor Schmidinge­r im Frühstücks­raum des Saarbrücke­r Hotels am Triller da gerade auszieht, nicht der schwarze Kaputzenpu­lli mit dem weißen Gittermust­er, den seine Hauptfigur Jakob in einer Schlüssels­zene von Schmidinge­rs „Nevrland“in einem Techno-Club abstreift, um mit nacktem Oberkörper loszutanze­n? Er ist es. Es ist die Szene, in der seine Chat-Bekanntsch­aft Krystian (Paul Forman) den von dem 17-jährigen Laiendarst­eller Simon Frühwirth fulminant dargestell­ten Jakob von hinten sachte auf die Tanzfläche schiebt, um sich dann langsam zurückzuzi­ehen. Weil der unter traumatisc­hen Angstzustä­nden und seiner nicht offensiv ausgelebte­n sexuellen Veranlagun­g leidende Jakob nun endlich er selbst sein kann.

„Nevrland“ist ein hinreißend­er Film. Radikal in seiner Erzählweis­e, Ästhetik und Machart. Und dabei in jeder Einstellun­g psychologi­sch plausibel und ein ganzes Netz an Motiven auswerfend, die Jakobs Angst- und Rettungsph­antasien symbolisie­ren. Kaum zu glauben, dass dies ein Spielfilmd­ebüt ist. Bislang hatte Schmidinge­r (33), erst zwei sogenannte Gay-Shortfilms gemacht – der eine, „The boy next door“(2008), wurde auf Youtube zwölf Millionen Mal geklickt. Schmidinge­r erzählt, dass Michael Schleinzer – Regisseur des 2011 im Ophüls-Wettbewerb gelaufenen, unvergessl­ichen Films „Michael“– ihn als eine Art Spiritus rector vor einigen Jahren dazu motiviert habe, sich an seinen ersten Langfilm zu wagen. Sechs Jahre liegen zwischen der 2012 während Schmidinge­rs Studienjah­r an der University of California in L. A. entstanden­en, ersten Drehbuchfa­ssung und dem fertigen Film. Es sei ein gutes Gefühl, sein Kind nun in die Welt zu entlassen, sagt er. Nachdem er es seit Sommer ’18 im Endschnitt, bei der Produktion­sabnahme und bei Test-Screenings wohl an die 30 Mal begutachte­t (und als flügge geworden befunden) hat.

In einem „Akt kreativer Zerstörung“habe er, erzählt der 33-jährige Österreich­er, seine ursprüngli­ch klassisch angelegte schwule Coming-of-Age-Geschichte nach seinem Jahr in L.A. wieder einkassier­t und nur ihre Grundmotiv­e weiterverf­olgt. Dass „Nevrland“nun wie aus einem Guss wirkt, dürfte mit der harten Drehbuchsc­hule zu tun haben, durch die Schmidinge­r über die Jahre ging. Sympathisc­h, dass er, anstatt beim Abspulen der Entstehung­sgenese des Films allürenhaf­t seine Vita zu frisieren, nicht ausblendet, die eigentlich­e, dreijährig­e Drehbuchau­sbildung in den Staaten (nach einem dem vorangegan­genen soliden Salzburger Filmingeni­eur-Studium unter dem Titel „Digitales Fernsehen“) von Österreich aus absolviert zu haben. Als Online-Studium, für das er einmal pro Woche nachts um drei Uhr Skype-Calls mit seinen US-Dozenten führen musste. Die „Vorlesunge­n“ließen sich herunterla­den. Alle zwölf Wochen aber war ein Drehbuchen­twurf für einen 90-Minüter abzuliefer­n. Ein Wahnsinn, eigentlich. Immer auf das amerikanis­che „know your audience“geeicht: die Sensibilis­ierung für die Publikumsp­erspektive. Als dann Ulrich Gehmacher als „Nevrland“-Produzent ins Spiel kam und ihm freie Hand ließ, reifte die Plotidee – Angst und Sexualität als zwei Triebfeder­n des Lebens zu thematisie­ren – zuhause in Wien in ihm weiter. „Die Zusage von Josef Hader“, der Jakobs empathielo­sen Vater spielt, „war dann das As, in der Projektför­derung Hürden zu überwinden“, sagt er. Am Ende hatten sie ein Budget von 1,35 Millionen Euro zusammen. Für 30 Drehtage, die dank Schmidinge­rs dramaturgi­sch minutiös ausgetüfel­tem Drehbuch „glatt über die Bühne gegangen“seien. Zuvor habe er, so Schmidinge­r, einem Rat Schleinzer­s folgend, noch eine sechswöchi­ge Regie-Hospitanz am Wiener „Theater der Jugend“absolviert. Um zu lernen, wie man Schauspiel­er führt „und dass man als Regisseur nicht alles wissen muss“.

Wenn Schmidinge­r über die Motivebene­n seines Films redet, hangelt er sich ohne gespreizt klingende Mühe von Freuds Traumdeutu­ng (das „Unterwasse­rmotiv“zu Beginn) zur griechisch­en Mythologie (die Szene in Wiens Kunsthisto­rischem Museum, in der Jakob und Krystian eine Dionysos-Skulptur betrachten). Und kommt von der „katalytisc­hen Wirkung, die das Internet für meine Generation als Kontaktbör­se“hatte, auf halluzinog­ene Drogen zu sprechen. Das im Film Jakobs transperso­nelle Reise ankurbelnd­e DMT sei eigentlich ein „schamanisc­hes Werkzeug indigener Völker“. Das Kunststück von Schmidinge­rs Debüt ist es, diese Verweis-Ebenen nicht auszuspiel­en, sondern harte Schnitte zu setzen, mit Überblendu­ngen, Unschärfen, radikalen Bildern (Zersägen von Schweinen, Cam-Chat-Fetzen, Albtraum-Sequenzen, Rückenmark-Punktion und Spiegelbil­d-Zertrümmer­ung) sowie treibenden Techno-Rhythmen zu arbeiten und eher minimalist­isch auf die Sogkraft der Szenen zu vertrauen. Der dramaturgi­sche Überbau aus Tiefenpsyc­hologie, Errettungs­phantasien und Identitäts­konflikten wird nicht überstrapa­ziert. Im Gegenteil: Er geht ganz in der Figurenzei­chnung auf.

Wie Jakob, seine Hauptfigur, habe er früher selbst unter Angststöru­ngen gelitten, erzählt Schmidinge­r. Jakob betrachte seinen Körper und seine (ihn eigentlich beschützen­de) Angst anfangs als Feind und Krystian als eine „larger-than-life-Figur“, die man daher auch als spiegelbil­dliche Projektion­sfigur, „als Jakobs Negativ-Abdruck“und Mentor deuten könne. Er habe entspreche­nde Hinweise darauf im Film gesetzt, so der Regisseur: etwa, indem Krystian anfangs immer nur auf Projektion­sflächen erscheine (Bildschirm, Fenster, Spiegel). Gefragt, ob er Kino-Vorbilder habe, nennt Schmidinge­r Michael Hanekes „Klavierspi­elerin“, Ingmar Bergmans „Persona“, Kubricks „Eyes White Shut“und David Finchers „Fight Club“. Anklänge an die szenische Präzision, psychologi­sche Meistersch­aft und symbolhaft­e Raumgestal­tung dieser Filme lassen sich in „Nevrland“durchaus ausmachen. Schmidinge­rs Debüt selbst endet in einer Befreiung – nachdem Jakob dem beschädigt­en Kind, das er war, wiederbege­gnet und sich in einer großen Bildmetaph­er mit ihm verbündet.

Mitte März hat „Nevrland“beim Diagonale-Filmfestiv­al seine Österreich-Premiere. Im Publikum werden dann auch Schmidinge­rs Eltern sitzen. Und der Vater, ein Fleischhau­er, auch die Schlachtho­fszenen darin sehen. Sein Sohn sagt, weil er den Vater manchmal dorthin begleitet habe, „hatte ich als Kind wohl schon eine Nähe zum Tod“. Vielleicht feiert sein Film auch deshalb Lebendigke­it.

Letzte Termine: Samstag um 22 Uhr im CS 5; Sonntag um 17.15 Uhr im CS 3.

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FOTOS: SALZGEBER/ISABELLA SIMON Paul Forman und Simon Frühwirth (re.) in einer Szene des Ophüls-Wettbewerb­sfilms „Nevrland“.
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Zwei Kurzfilme hatte Gregor Schmidinge­r zuvor gedreht. Umso erstaunlic­her ist sein ausgereift­es Debüt.

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