Vergangenheitsschatten über Teneriffa
Die 41-jährige IngerMaria Mahlke ist eine Ausnahmeschriftstellerin. Das zeigt einmal mehr ihr neuer Roman „Archipel“, für den sie gestern Abend – wiewohl auf der sechs Titel umfassenden Shortlist nur als Außenseiterin gehandelt – mit dem Deutschen Buchpr
Handlung und wunderbar verrückte Einfälle. „Archipel“, ein Roman über die Vergänglichkeit, ist ein großer Wurf. Er führt uns auf die Kanareninsel Teneriffa, in die Stadt Santa Cruz, dort, wo die Autorin – ihre Mutter stammt von der Insel – viele Monate ihrer Kindheit verbracht hat, sie spricht auch Spanisch.
Zurück zum alten Julio Baute. Er hockt in der Pförtnerloge eines Altersheims in La Laguna, im Fernseher läuft die Tour de France. Baute ist hier zu Hause, aber er ist nicht so verwirrt wie die meisten, die mit ihm hier ihre letzten Jahre verbringen. Und er will nützlich sein, keiner der Dementen darf das Gebäude allein verlassen. Er passt auf, denkt an seine Tochter Ana, die es zur Staatssekretärin in der konservativen Partei geschafft hat, aber mit einem Alkoholiker verheiratet ist.
Der Historiker Felipe, der einer altehrwürdigen Kanarenfamilie entstammt, hat seinen Lehrstuhl an der Universität aufgegeben, genauso wie auch sein Forschungsprojekt über die spanische Repression unter Franco. Auch seine Tochter Rosa, Bautes Enkelin, sieht sich mit 21 Jahren und aus Madrid zurückgekehrt, bereits als eine im Leben Gescheiterte. Sie hat keine Idee mehr, was sie machen könnte. Das beschäftigt den alten Mann in der Pförtnerloge.
Der Roman beginnt mit einer Beschreibung der Meteorologie auf der „Insel des ewigen Frühlings“. In der Folge geht es aber um weniger romantische Angelegenheiten – nämlich um das Erbe des einstigen Franco-Regimes, um Korruption, Sex, menschliches Versagen und eine verquere Liebe. Die Insel wird zum Symbol für historisches Scheitern in der europäischen Krise, obwohl es eine Familiensaga ist.
Die Geschichte wird rückwärts erzählt, von 2015 bis zurück in das unselige Franco-Zeitalter mit dem Spanischen Bürgerkrieg. Das macht es für die Leser nicht gerade leicht, aber Mahlke wollte das so, weil sie in die Rückschau ihre Figuren einbetten kann. Durch kenntnisreiche Schilderungen von Orten und des Milieus auf der Insel kommt es zu ebenso pointierten wie hintergründigen Szenen. Vielerorts sind Feriensiedlungen und Hotels hochgezogen, nur halb legal. Weil die Sorge um die Umwelt von der Politik nicht wahrgenommen wird, sind die Strände von Algen verseucht. Eine Ermittlung wegen Korruption wird eingeleitet, die Bernadottes – die Familie des schweren Trinkers Felipe – gerät unter Druck.
Die Familie von Julio Baute, dem 95-Jährigen, und von seinem Schwiegersohn Felipe, den seine Tochter geehelicht hat, werden gegenübergestellt. Wie haben sie in den vergangenen Jahrzehnten gelebt? Wo standen sie politisch? Haben sie sich schuldig gemacht? Mahlkes Konstruktion erscheint hier etwas gequält, wenn sie in Tiefenschichten der spanischen Geschichte eindringt. Zumal sie aus der Vergangenheit auf die Gegenwart schließen will, was etwas gestellt erscheint. Und doch: „Archipel“ist elegant erzählt. Um seine kluge Komposition zu goutieren, verlangt es jedoch Leser, die sich auf eine umgekehrte Dramaturgie einlassen. Auch wenn dies uns etwas an Kopfarbeit zumutet.
Inger-Maria Mahlke: Archipel. Rowohlt, 432 Seiten, 20 €