Es war einmal vor langer, langer Zeit
Zwischen M ain und M eer entführt die Deutsche M ärchenstraße an O rte, wo die Erzählungen der Brüder Grimm lebendig werden.
HANAU „Rapunzel, lass dein Haar herunter!“Es ist ein Sonntagnachmittag gegen drei, und wie immer um diese Zeit drängeln sich kleine und große Füße auf dem Pflaster des Burghofs, während ihre Besitzer, den Kopf im Nacken, zu dem Balkon über ihnen hochrufen. Dann endlich: Die holde Maid betritt die Brüstung des aus rotbraunen Steinen zusammengesetzten Rundturms und tut, wie ihr geheißen. Doch anders als im Märchen hat dieser sowohl Treppe als auch Tür, sodass Rapunzel herabsteigen und ihrem Publikum ihre Geschichte erzählen kann.
Keine Frage, ein Besuchermagnet ist das Fräulein mit dem goldenen Zopf auf jeden Fall. Aber auch ohne das sonntägliche Spektakel erfreut sich die Trendelburg größter Beliebtheit. Diese trutzige Festung, die seit Jahrhunderten über dem Flusstal der Diemel verharrt und aufs Grün des Reinhardswalds blickt. Mit dicken Wällen, in deren Ritzen die Schwalben brüten, und efeuumrankten Burgmauern, hinter denen ein Hotel die romantische Ader seiner Gäste mit knarzendem Holz, düsteren Ritterrüstungen und verträumten Himmelbetten befriedigt.
Wer hier nicht wohnt, kommt als Ausflügler – um die enge Stiege des Rapunzelturms zu erklimmen oder einfach nur, um bei einer Landknecht-Vesper mit Schinken„Woscht“im Hof unter uralten Kastanien zu sitzen. So wie die nahegelegene Sababurg, Dornröschens Zuhause, ist die Trendelburg eines von etlichen Zielen auf der Deutschen Märchenstraße, die – mit einigen Abzweigungen – vom hessischen Hanau nach Bremen und damit vom Main fast bis zur Nordsee führt.
Schon seit 1975 nimmt uns die Ferienroute mit zu den Lebensstationen der Brüder Grimm, die Hunderte Märchen und Sagen sammelten, bearbeiteten und von 1812 bis 1818 als „Kinder- und Hausmärchen“und „Deutsche Sagen“publizierten. Und natürlich geht es an die Orte und in die Landschaften, wo sich ihre Geschichten aufspüren lassen. In bunte Fachwerkstädte und auf malerische Schlösser, durch geheimnisvolle Wälder und zu verwunschenen Wassern. Wo uns Rotkäppchen, Aschenputtel & Co. bei Führungen, Vorlesestunden und Aufführungen in ihre Welt einladen.
Offizieller Startpunkt der Märchenstraße ist Hanau, der Geburtsort des unzertrennlichen Brüderpaars. Gerade mal eine halbe Autostunde weiter auf der 600 Kilometer langen Route liegt Steinau an der Straße, wo Jacob und Wilhelm Grimm glückliche Kindertage verbrachten. Neben Renaissanceschloss und Kirche ist es vor allem das einstige Amtshaus, das uns zu einem Besuch in dem Städtchen an der Kinzig überredet. Hier ging der Vater in dem 1562 entstandenen Gebäude seinen Geschäften als Amtmann nach, und hier wohnte die Familie.
Heute ist das Haus ein Museum, das wissenschaftlich brillant, aber kein bisschen langweilig Leben und Werk der Brüder unter die Lupe nimmt. Um die Grimmschen Lebensstationen zu komplettieren, muss man sich vor Kassel und Göttingen zunächst nach Marburg aufmachen. Wo Jacob und Wilhelm die Universität besuchten und durch die Bekanntschaft mit dem Dichter Clemens Brentano ihre Liebe für Märchen entdeckten. Wo man auf den Spuren der Jurastudenten über die steilen Gassen und Treppen der fachwerkfeinen Altstadt bis hinauf zum Landgrafenschloss steigen und dabei neben einem überdimensionalen Froschkönig allerlei Märchenfiguren begegnen kann.
Mit ihren wundervollen Sammlungen bereicherten die Grimms unsere Kultur und nährten unsere Träume. Aber sie konnten auch anders. Kassel, nach Marburg 25 Jahre lang Lebensmittelpunkt der Brüder, zeigt das berühmte Duo mit der Grimmwelt noch von einer weiteren, weniger bekannten Seite: als bedeutende Sprachforscher und Mitbegründer der Germanistik. Im neuen Ausstellungsgebäude auf dem Weinberg arbeiten die Museumsmacher mit wertvollen Originalen, Film und Ton oder auch künstlerischen Installationen und erzählen uns viel Neues über die Arbeitsund Lebensgemeinschaft der Grimms.
Der Rundgang folgt den Einträgen aus dem Deutschen Wörterbuch, ihrem umfassendsten Projekt, quer durchs Alphabet und bringt uns etwa bei Ä wie Ärschlein zu einer gigantischen Schimpfwortmaschine, die uns beim Hineinsprechen eines unflätigen Worts mit einem aus dem Grimmschen Wörterbuch beschenkt. Klar sind auch die milliardenfach verkauften „Kinderund Hausmärchen“originell verpacktes Thema in der Grimmwelt. Was Lust macht, auf die Ferienroute zurückzukehren.
Etwa nach Bergfreiheit, einem Bergmannsdörfchen im Kellerwald, in dem der Heimatforscher Eckhard Sander den Ursprungsort von Schneewittchen und den sieben Zwergen vermutet. Es gibt jedenfalls genügend Parallelen zwischen Märchen und realen Fakten rund um die schöne, aus dem benachbarten Bad Wildungen stammende Margaretha von Waldeck, die im 16. Jahrhundert hinter den sieben Bergen am kaiserlichen Hof in Brüssel lebte und ebenfalls vergiftet wurde.
Wie andere Touristen auch können wir ein Stück längst verblasste Lebenswirklichkeit schnuppern, indem wir in die örtliche Grube „einfahren“, in der einst Kinder – durch die harten Arbeitsbedingungen im Wachstum zurückgeblieben und mit ihren Filzkappen an Zwerge erinnernd – in feuchten Felsspalten Kupfererz abbauten. Können oben im Dorf einen Blick ins „Schneewittchenhaus“ werfen, ein für Bergfreiheit typisches Haus mit Küche und einem einzigen Zimmer zum Schlafen und Wohnen, was es in der Form nirgendwo sonst in Deutschland gibt.
Und das Beste: „Die Einraumhäuser der Bergarbeiter entsprechen durchaus realistisch der Beschreibung des Zwergenhauses im Märchen“, wie Sander weiß. So passt es doch, dass in dem kleinen Museumsraum ein für sieben Personen gedeckter Tisch und sieben kleine Betten stehen, während an der Wandgarderobe sieben Zipfelmützen baumeln.
Bleiben wir noch eine Weile im Dunstkreis Kassels, wo die Grimms einen Großteil ihrer Märchen sammelten. Und machen uns auf ins 30 Kilometer entfernte Hessisch Lichtenau, einen netten Fachwerkort hinter starken Stadtmauern, der das Tor zum Frau-Holle-Land öffnet. Natürlich nicht ohne die Betten schüttelnde Dame mit einem eigenen Rundweg zu ehren, dessen Herzstück das Holleum, das kleine Museum im Alten Rathaus, bildet.
Von hier ist es ein Katzensprung zum Hohen Meißner, dem König unter Nordhessens Bergen, an dessen Fuß im kühlen Schatten der Bäume der Frau-Holle-Teich ruht. Der Eingang ins Reich der Märchengestalt. Ein trübes dunkles Auge, umrahmt von Gräsern, in dessen unergründlicher Tiefe das Schloss der Frau Holle liegen soll.
Es gäbe noch vieles zu entdecken auf der Märchenstraße: Alsfeld mit seinem Märchenhaus, die Rattenfängerstadt Hameln oder Buxtehude, wo Hase und Igel um die Wette liefen. Und damit genügend Stoff für eine weitere Reise.