Martin Schulz warnt die SPD vor Neuwahlen
Kurz vor dem Parteitag der SPD werben der Vorsitzende und führende Sozialdemokraten energisch für Verhandlungen über eine große Koalition.
BERLIN/SAARBRÜCKEN (dpa/afp/kir/ SZ) Vor dem Sonderparteitag der Sozialdemokraten an diesem Sonntag hat die SPD-Spitze um Martin Schulz offensiv für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit der Union geworben. Schulz warnte die Delegierten im Magazin „Spiegel“vor den Folgen von Neuwahlen für die Partei, sollte die Tür für eine Neuauflage der großen Koalition zugeschlagen werden.
Beim SPD-Sonderparteitag in Bonn stimmen 600 Delegierte darüber ab, ob das Sondierungsergebnis von SPD ausreicht und ihre Partei in förmliche Vertragsverhandlungen mit CDU und CSU einsteigen soll. Dabei sind sie an die diversen Empfehlungen ihrer Landesverbände nicht gebunden.
Schulz sagte, dass es bei einer Absage an Koalitionsverhandlungen „ziemlich rasch“zu Neuwahlen kommen würde. Auch die SPD müsse dann mit einem schlechteren Ergebnis rechnen. „Wenn es den Parteien nicht gelingt, mit den Mehrheiten im Bundestag eine Regierung zu bilden, würden sie von den Wählern abgestraft“, sagte der SPD-Chef, der morgen auch um seine politische Zukunft kämpft.
Rund 40 SPD-Politiker aller Flügel plädierten in einem Aufruf für ein Ja des Parteitags – „aus Verantwortung für Deutschland, Europa und die SPD“. Zu den Unterzeichnern zählen auch die ehemaligen Juso-Vorsitzenden Niels Annen und Björn Böhning – obwohl die Jusos die Speerspitze der Groko-Gegner bilden. Auch der frühere Saar-SPDChef Reinhard Klimmt warb in der SZ für Groko-Gespräche: „Die große Koalition hat in den letzten vier Jahren gar nicht so schlecht gearbeitet.“Unterm Strich komme er zu der Meinung: „Die sollen einfach weiterarbeiten und ihre Arbeit noch ein bisschen verbessern.“
Der Parteitag ist für die SPD-Führung nur die erste Hürde: Sollten die Delegierten für Koalitionsverhandlungen stimmen, müsste das Endergebnis dann nochmal der SPD-Basis in einem Mitgliederentscheid vorgelegt werden. Den Widerstand gegen eine Neuauflage der Groko führen die Jusos mit ihrem Vorsitzenden Kevin Kühnert an. Sie fürchten nach dem desaströsen Bundestagswahlergebnis eine Verwässerung des Profils der Partei und einen weiteren Niedergang. Auch die Saar-Jusos appellierten am Freitag erneut an die Delegierten, gegen Groko-Gespräche zu stimmen.
Der Chef des Deutschen Gewerkschaftsbunds, Reiner Hoffmann, stärkte Schulz erneut den Rücken. Im Fall eines Neins der SPD zu einer neuen großen Koalition erwarte er „Chaos“. Aber: „Ich gehe davon aus, dass es eine klare Zustimmung geben wird“, machte er mit Blick auf den Parteitag deutlich.
Bei den Wählern kann die SPD derzeit nicht punkten. Im ZDF-„Politbarometer“vom Freitag stürzte die Partei auf 20 Prozent ab; das sind drei Prozentpunkte weniger als Anfang Dezember.
BERLIN Auf die Frage, wie es wohl ausgehen werde, antwortet ein langjähriger Mitarbeiter des Willy-Brandt-Hauses erstaunlich präzise: „68 zu 32 Prozent für die Groko. Die Linke bei uns wird immer überschätzt.“Das bestätigt die Geschichte der letzten großen Konflikte in der SPD zwar, doch deutet vieles darauf hin, dass es am Sonntag in Bonn etwas knapper wird.
600 Delegierte plus 45 Vorstandsmitglieder entscheiden, ob die Partei in förmliche Koalitionsverhandlungen mit der Union einsteigt. Das Treffen ist auf fünf Stunden angesetzt: Rede des Vorsitzenden Martin Schulz, Debatte. Dann folgt die Abstimmung. Es gibt einen Gegenantrag des Berliner Landesverbandes, nicht zuzustimmen. Da die Delegierten alle ihre Rückfahrten gebucht haben, dürfte es keine gravierenden Verzögerungen geben. Angela Merkel und ganz Deutschland warten auf die Entscheidung. Das Ende der unendlichen Geschichte um die Bildung einer neuen Bundesregierung wäre freilich auch das noch nicht. Über das Ergebnis von Koalitionsverhandlungen müssten nämlich am Ende noch einmal alle SPD-Mitglieder per Urabstimmung entscheiden. 2013 stimmten nach ebenfalls kontroverser Debatte 75 Prozent der Mitglieder dafür.
Das Pro-Lager hat sich diesmal erst mit Verzögerung formiert. Die Parteizentrale zeigte sich erstaunlich schlecht auf eine innerparteiliche Überzeugungskampagne vorbereitet. Argumentationshilfen, die die positiven Seiten des Sondierungsergebnisses betonen, sind erst seit wenigen Tagen auf der Website zu lesen; Schulz hatte sie bei der ersten Pressekonferenz nach den Sondierungen nicht parat. Dafür irritierte er viele Genossen mit der Andeutung, dass seine Absage an einen Ministerposten unter Angela Merkel nicht das letzte Wort gewesen sein müsse. In der SPD-Bundestagsfraktion wurde von einem „Kommunikationsdesaster“gesprochen.
Die Gegner um Juso-Chef Kevin Kühnert waren hingegen sofort präsent, auch medial. Ihnen half, dass die ersten Entscheidungen von Parteigremien in Sachsen-Anhalt, Berlin oder Thüringen gegen eine neue Groko liefen. Anfang der Woche drohte eine regelrechte Anti-Groko-Dynamik. Dazu trugen auch Aussagen von Vize-Parteivorsitzenden bei, die Nachverhandlungen in wichtigen Punkten wie der Bürgerversicherung forderten. Doch seit einigen Tagen dreht sich die Stimmung. Die 60 Abgeordneten der „Parlamentarischen Linken“votierten überraschend deutlich für Koalitionsverhandlungen. Dafür sprachen öffentlich auch zwölf Großstadtbürgermeister der SPD, die Gewerkschaften und SPD-Altvordere wie Kurt Beck, Hans Eichel oder Erhard Eppler. Ex-Parteichef Franz Müntefering warnte erst am Freitag vor einem „bitteren Eintrag“in das Geschichtsbuch der SPD, den ein Nein bedeute.
Halbwegs sicher vorhersagen lässt sich nur, dass die 45 Vorstandsmitglieder fast alle für ihre eigene Empfehlung stimmen werden, mit der Union weiter zu reden. Die 144 Nordrhein-Westfalen, die fast ein Drittel der Delegierten stellen, dürften relativ verteilt votieren, ebenso die Hessen (72) und Bayern (78). Die 23 Berliner sind wie die Thüringer mehrheitlich gegen die Groko, die 81 Niedersachsen, 47 Baden-Württemberger und 15 Hamburger hingegen ebenso mehrheitlich dafür wie die 24 Saarländer. Ein Ja des Parteitags erscheint etwas wahrscheinlicher als ein Nein.
Die Tagesform der Redner wie Malu Dreyer wird entscheidend sein. Und bei Martin Schulz wird es sehr darauf ankommen, ob er nach seinen vielen Hakenschlägen wieder einen überzeugenden Ton trifft. Intern laufen dem Vernehmen nach massive Bemühungen, ihn zu dem Versprechen zu bewegen, auf einen Ministerposten zu verzichten und sich ganz darauf zu konzentrieren, die SPD auch in der großen Koalition zu erneuern und zu profilieren.
„Wir haben bei der Sondierung den
Rahmen abgesteckt, was geht und was nicht geht. Dabei bleibt es.“
Martin Schulz
im aktuellen „Spiegel“
„Die Zwei-KlassenMedizin muss abgeschafft werden.“
Martin Schulz
im „Spiegel“vom 2. Dezember. Die „Bürgerversicherung“ist aber im Sondierungspapier nicht enthalten.
„Wir stehen angesichts des Wahlergebnisses vom 24. September diesen Jahres für den Eintritt in eine große Koalition nicht zur Verfügung.“
Martin Schulz
am 20. November 2017, nach dem Jamaika-Aus
„Ja, ganz klar. In eine Regierung von Angela Merkel werde ich nicht eintreten.“
Martin Schulz
am Tag nach der Bundestagswahl,
am 25. September 2017
„Es ist völlig klar, dass der Wählerauftrag
an uns der der Opposition ist.“
Martin Schulz
am Wahlabend, 24. September 2017
„Ich kann und will Ihnen nicht alles versprechen. Aber ich garantiere Ihnen, dass die folgenden vier Punkte für mich nicht verhandelbar sind: (...)
Wir schaffen die willkürliche Befristung ab (...).“
in einer Wahlkampf-Anzeige. Im Sondierungsergebnis ist das Ende der sachgrundlosen Befristung nicht enthalten.