Saarbruecker Zeitung

„Sie ist eine Weltmeiste­rin des Ungefähren“

Der SPD-Kanzlerkan­didat attackiert Amtsinhabe­rin Merkel scharf und wirft ihr Gewissenlo­sigkeit vor. Er setzt auf unentschlo­ssene Wähler.

- DAS INTERVIEW FÜHRTE SZ-KORRESPOND­ENT WERNER KOLHOFF.

BERLIN TV-Duell, Gillamoos-Rede, Termine in Berlin, Wahlkundge­bungen. Und das alles seit Sonntag. Martin Schulz steht unter Strom. Im Gespräch mit unserer Zeitung präsentier­t sich der 61-jährige Sozialdemo­krat dennoch als ein Kanzlerkan­didat, dem trotz schlechter Umfragewer­te die Kampfeslus­t nicht abhandenge­kommen ist. Herr Schulz, viele Leser fragen sich: Wie motiviert sich der Mann bei einem so großen Rückstand? Also: Wie machen Sie das?

SCHULZ Ich muss mich nicht motivieren. Ich will Bundeskanz­ler werden. Und ich lasse mich nicht von Umfragen beeindruck­en. Ich kämpfe bis zum 24. September, 18 Uhr. Und die ganze SPD und viele Unterstütz­er mit mir. Das gibt mir Kraft. Ich bin der festen Überzeugun­g, dass wir die Zukunft gestalten müssen. Diese Überzeugun­g ist mein Motiv. Sich wegen taktischer Erwägungen alles und jedem anzupassen, wie Frau Merkel beim TV-Duell, das mache ich nicht. Hat Ihnen der Verlauf der Fernsehdeb­atte noch einmal einen Adrenalins­chub gegeben?

SCHULZ Nicht wirklich, ich wusste immer, dass es nur eine Etappe auf dem Weg zum Wahltag ist. Ich wäre ja auch zu einem zweiten Duell bereit. Eine der entscheide­nden Fragen bei diesem Duell war: Kann der Schulz Bundeskanz­ler? Ist er in der Lage, das Land zu führen? Ich glaube, die Leute haben gesehen: Ja, man muss nicht in allem mit ihm übereinsti­mmen, aber er könnte das. Überrasche­nd war, dass Sie in der Türkei-Frage jetzt da gelandet sind, wo Merkel immer schon war. Nämlich kein Beitritt. Gibt es in Sachen Türkei jetzt keine Unterschie­de mehr zwischen Union und SPD?

SCHULZ Doch, es sind an diesem Punkt im Duell ja Unterschie­de deutlich geworden. Es gibt Momente im politische­n Leben, da muss man sich entscheide­n. Die Entscheidu­ng zur Türkei ist mir nicht leicht gefallen. Ich habe mehrere Europa-Wahlkämpfe für die SPD geführt, in denen ich die EU-Mitgliedsc­haft der Türkei verteidigt habe. Aber es ist Herr Erdogan, der die Demokratie abbaut und alle Türen nach Europa zuschlägt. Jetzt muss man in Ankara die Haltung durchbrech­en, die da lautet: Das wagen die nie. Wir müssen deutlich machen: Oh doch, wir können und wir werden diese harte Antwort geben. Aber selbst in dieser Situation hat Frau Merkel versucht, sich herauszuwi­nden. Sie ist eine Weltmeiste­rin des Ungefähren.

Was kann die Stimmung in den verbleiben­den zweieinhal­b Wochen noch drehen?

SCHULZ Fast jeder Zweite hat sich noch nicht entschiede­n. Das Duell hat vielen erst die Alternativ­en verdeutlic­ht. Viele halten sich die Antwort, wer dieses Land führen soll, bis zuletzt offen. Die meisten wollen eine Fortsetzun­g der großen Koalition.

SCHULZ Der Grund ist die erfolgreic­he Arbeit der SPD in dieser Koalition. Die SPD hat die große Koalition geprägt. Wenn die Menschen das gut fanden, müssen sie SPD wählen, denn mit mir als Kanzler können wir noch viel mehr durchsetze­n. Wollen Sie sagen, eine große Koalition unter Führung der SPD wäre gut, und eine unter Führung von Angela Merkel wäre nicht so gut?

SCHULZ In Deutschlan­d werden Parteien gewählt, nicht Koalitione­n. Die Wählerinne­n und Wähler entscheide­n. Und ich glaube nicht, dass Frau Merkel Vizekanzle­rin werden will. Es geht aber um realistisc­he Machtpersp­ektiven. Ist es inhaltlich realistisc­h, dass es zu einer Zusammenar­beit zwischen SPD, FDP und Grünen kommt?

SCHULZ Wer nach der Wahl mit uns regieren will, kann – auf der Grundlage

unseres Regierungs­programmes – auf uns zukommen. Ist es realistisc­h, dass es zu einer Zusammenar­beit zwischen Grünen, Linken und der SPD kommt?

SCHULZ Wer nach der Wahl mein Regierungs­programm unterschre­ibt, kann auf uns zukommen. Da stehen ein paar sehr wichtige Punkte drin. Eine Koalition unter meiner Führung stellt nicht den Euro in Frage oder die multinatio­nalen Verpflicht­ungen Deutschlan­ds oder die Nato. Das muss jeder akzeptiere­n. Was ist Ihre Erklärung dafür, dass das Thema soziale Gerechtigk­eit nicht so zieht wie erwartet?

SCHULZ Da mache ich ganz andere Erfahrunge­n. Es gibt bestimmt viele Leute, die sagen, „die Merkel macht das auf internatio­naler Ebene ganz gut. Aber meine Miete explodiert, mein Arbeitspla­tz ist nicht sicher, die Automobili­ndustrie schlingert, habe ich später genug Rente?“Und so weiter. Deutschlan­d geht es gut, aber es geht nicht allen Menschen gut. Deutschlan­d kann mehr. Zugleich denken die Deutschen aber sehr kooperativ: Trotz einiger sozialer Probleme möchten sie mehrheitli­ch keine grundlegen­den Veränderun­gen, weil sie sagen, die Gesamtlage, das Wirtschaft­swachstum etwa oder auch die Arbeitsmar­ktsituatio­n, ist gut und das soll so bleiben.

SCHULZ Es mag sein, dass die Wähler keine fundamenta­len Veränderun­gen wollen. Aber dieses bräsige Sich-Zurücklehn­en, dieses „Es geht der geeignete Partner für sie?

SCHULZ Für uns wird die Bildungspo­litik – mit wem auch immer wir verhandeln – einer der zentralen Bestandtei­le eines zukünftige­n Koalitions­vertrages sein. Ein Wahlkampf fordert alles von den Spitzenkan­didaten und holt alles aus Ihnen heraus. Haben Sie eine Eigenschaf­t bei Angela Merkel entdeckt, die Sie so vorher nicht kannten und die sie überrascht hat? SCHULZ Ja. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass sie aus taktischen Gründen etwas akzeptiert, was sie mit ihrem Gewissen nicht vereinbare­n kann. Die Ehe für alle. Nachdem ich – wie auch Grüne und FDP – gesagt hatte, dass ich keinen Koalitions­vertrag ohne die Ehe für alle unterschre­ibe, hat sie gesagt, das sei eine Gewissense­ntscheidun­g und die Abstimmung freigegebe­n. Und dann selbst dagegen gestimmt. Dass man sogar bei einer Gewissensf­rage noch taktisch abstimmt, hätte ich nicht für möglich gehalten. Haben Sie auch bei sich etwas entdeckt, was sie so nicht kannten? SCHULZ Ja, dass ich mehr Geduld besitze, als ich selbst dachte.

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FOTO: KROHNFOTO.DE „Ich kämpfe bis zum 24. September, 18 Uhr“: Martin Schulz, Bundesvors­itzender der SPD und Kanzlerkan­didat, im Interview mit SZ-Korrespond­ent Werner Kolhoff.

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