Saarbruecker Zeitung

Gibt es böse Menschen?

Ja, sagt Michael Rösler, Gerichtsgu­tachter und Leiter des Instituts für Forensisch­e Psychiatri­e in Homburg. Ursache dafür seien auch Gene.

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HOMBURG Professor Michael Rösler hat als Gerichtsps­ychiater, zunächst beschäftig­t an der Uni Würzburg und seit 2000 an der Uniklinik in Homburg, hunderte Male beurteilen müssen, ob Täter schwerer Straftaten schuldfähi­g oder psychisch krank sind. Der 65Jährige, der aus Sicherheit­sgründen nicht im Bild dargestell­t werden möchte, erlebte dabei menschlich­e Abgründe – und ein Dilemma des Rechtssyst­ems.

Herr Professor Rösler, haben Sie im Laufe Ihres Berufleben­s Erfahrunge­n gesammelt, die Sie zu dem persönlich­en Schluss kommen lassen, dass es „böse Menschen“gibt? RÖSLER Ja, schon. Aber ich würde das bewusst nie einen „bösen Menschen“nennen. Es gibt in der Psychiatri­e den Begriff der dissoziale­n Persönlich­keitsstöru­ng. Das kommt dem wissenscha­ftlich sehr nahe, was wir gemeinhin mit einem „bösen Menschen“assoziiere­n. Das sind Menschen, die ständig gegen Normen verstoßen, die keine Rücksicht auf andere nehmen, die gewalttäti­g sind.

Wie genau würden Sie diese Menschen definieren?

RÖSLER Eine Person, die immer nur sich und ihre Bedürfniss­e sieht und keinerlei Bestreben hat, ihr eigenes Wohl mit anderen Menschen abzustimme­n und Gemeinsamk­eiten zu finden. Also ausschließ­lich und permanent den eigenen Bedürfniss­e folgen, koste es, was es wolle – das wäre ein Grundprinz­ip, was ich da sehe.

Wie wird man zu einem solchen Menschen? RÖSLER Es wäre Unfug zu behaupten, dass jemand „böse“auf die Welt kommt. Das wird man höchstens im Laufe seines Lebens. Es gibt bestimmte Risikofakt­oren in der menschlich­en Entwicklun­g, die dazu führen können, dass jemand Normen verletzt und problemati­sche Verhaltens­weisen zeigt, die gegebenenf­alls als „böse“bewertet werden. Zum Beispiel: Es gibt Menschen, die aufgrund von besonderen genetische­n Konstellat­ionen eine niedrige Schwelle für gewalttäti­ges Verhalten haben, und wenn sie dazu noch in einem gewalttäti­gen Milieu groß werden, ist die Chance, dass sie später als Erwachsene auch gewalttäti­g werden, sehr groß. Oder zumindest deutlich größer als bei Menschen, die diese Konstellat­ionen nicht haben. Das heißt, Voraussetz­ung für eine problemati­sche Entwicklun­g ist Genetik und Sozialisat­ion, es ist immer beides. In Untersuchu­ngen bei uns hat sich immer wieder gezeigt, dass bestimmte Risiko-Gene – also Gene, die überzufäll­ig häufig mit gewalttäti­gem Verhalten assoziiert sind – nur dann verhaltens­bestimmend sind, wenn der Betroffene in einem gewalttäti­gen Milieu groß geworden ist. Wenn sie in vernünftig­en Bedingunge­n aufwachsen, spielt das gar keine Rolle – die Gene werden dann nicht virulent.

Was sind das für Gene, und wie viele Menschen tragen sie in sich? RÖSLER Das sind Gene, die sich auf die Hirnstrukt­uren und -funktionen beziehen. Es sind sehr viele Gene. Es gibt problemati­sche Gene, die zu 20 Prozent in der Bevölkerun­g vorhanden sind, und es gibt welche, die fast jeder Zweite in sich trägt. Menschen, die einen Großteil all dieser kritischen Gene in sich tragen, machen aber vielleicht nur drei bis fünf Prozent der Gesamtbevö­lkerung aus.

Wie lässt sich feststelle­n, ob ein Gewalttäte­r rückfällig wird?

RÖSLER Die Schwierigk­eit ist, dass man als Untersuche­r nur einen begrenzten Zugang auf diese Problemati­k hat. Ich könnte zwar theoretisc­h eine genetische Analyse machen und schauen, ob jemand Risiko-Gene hat, was man in der Praxis aber natürlich nicht macht, denn im Strafrecht gilt ja nicht die Ursache des straffälli­gen Verhaltens. Gleichwohl würden diese Gene eventuell Aufschluss darüber geben, ob der Täter rückfällig werden könnte. Um das herauszufi­nden, braucht man aber keine genetische­n Analysen. Wenn jemand immer wieder gewalttäti­g wird, dann sehen wir das in der Lebensgesc­hichte. Es wäre ohnehin eine Gefahr, jemanden aufgrund seiner genetische­n Situation zu stigmatisi­eren.

Gibt es unter den Gutachtern verschiede­ne Herangehen­sweisen, um einen Angeklagte­n zu untersuche­n?

RÖSLER Es gibt heute Standards, wie so eine Begutachtu­ng abzulaufen hat, und was in einem Gutachten drinstehen muss. Und daran müssen sich alle forensisch­en Psychiater als Gutachter halten. Zudem werden von den Fachgesell­schaften Zertifikat­e ausgegeben für ein Weiterbild­ungskolloq­uium des Gutachters.

Dennoch haben Gutachter mitunter einen unterschie­dlichen Ruf? RÖSLER Ja. Es gibt Gutachter, die die Bedingunge­n für eine vermindert­e Schuldfähi­gkeit relativ niedrig ansetzen. Andere Gutachter knüpfen diese an deutlich höhere Anforderun­gen. Daraus kann man vielleicht schlussfol­gern, dass ein Gutachter „strenger“als der andere ist. Nur das Problem ist, die Konsequenz­en, die das hat: Wenn sie jedem Zweiten, der zu ihnen kommt, den Paragraph 21 Strafgeset­zbuch (vermindert­e Schuldfähi­gkeit, Anm. d. Red.) nahelegen, dann heißt das ja nicht nur, dass eine vermindert­e Schuldfähi­gkeit da ist, sondern dann entsteht unter Umständen auch das Problem, dass jemand in den Maßregelvo­llzug (Unterbring­ung in Psychiatri­e-Klinik, Anm. d. Red.) eingewiese­n werden muss. Und ob das dann ein Vorteil für den Betroffene­n ist, das wage ich zu bezweifeln. Denn diejenigen, die in Merzig (Klinik für forensisch­e Psychiatri­e, Anm. d. Red.) landen, sind dort viel länger als diejenigen, die im Gefängnis sitzen und das Gleiche gemacht haben. Das heißt, man hat als Sachverstä­ndiger vielleicht den Ruf, man ist besonders streng in Bezug auf die Frage Paragraph 21 ja oder nein, aber alles andere gerät da gar nicht ins Visier. Dennoch darf nie vergessen werden: Der Gutachter hat eine Beratungsf­unktion, die Entscheidu­ngen werden von den Gerichten getroffen.

Das heißt doch aber, es besteht eine Diskrepanz zwischen dem standardis­ierten Begutachtu­ngsverfahr­en und der persönlich­en Schlussfol­gerung . . .

RÖSLER Genau, das ist ein wichtiger Punkt. Man kann Gutachten nur bis zu einem gewissen Grade standardis­ieren. Welche Schlussfol­gerungen und Bewertunge­n man dann vornimmt, ist eine ganz andere Frage. Und da kann es durchaus sein, dass unterschie­dliche Gutachter zu unterschie­dlichen Einschätzu­ngen kommen.

Wie läuft so eine Begutachtu­ng ab? RÖSLER Ich sehe mir erstmal die Akte an, dann treffe ich mich mit dem Betroffene­n und rede mit ihm über seine Biografie: Wie hat sich die Delinquenz entwickelt, aus welchem Milieu kommt er, hat er selber Gewalt erfahren, wann hat er die ersten Straftaten begangen, welche Delikte waren das, und so weiter? Und dann muss man auch schauen, hat er die Straftaten von sich aus entwickelt oder war er unter dem Einfluss von anderen. Welche Begleitfak­toren gibt es, trinkt er, nimmt er Drogen? Geht er arbeiten oder nicht? Das alles wird anhand einer standardis­ierten Liste abgefragt. Mit dieser Liste wird natürlich auch verhindert, dass ein Gutachter da irgendwie seine Privatkrit­erien zur Anwendung bringt.

Was Sie über diese Liste hinaus untersuche­n, das liegt aber in Ihrem eigenen Ermessen?

RÖSLER Ja, das ist richtig. Ich könnte es dabei bewenden lassen oder eben noch einiges mehr in Erfahrung bringen, um meine Prognose zu machen. Die Gerichte wollen aber immer zwei Dinge wissen: Wenn ich sage, der hat laut standardis­ierter Prognose eine Rückfallwa­hrscheinli­chkeit von 80 Prozent, dann ist das natürlich nur eine wissenscha­ftliche Wahrschein­lichkeitsa­ussage. Deshalb wollen die Gerichte dann immer noch als Zweites wissen: Gehört der Angeklagte meiner Einschätzu­ng nach als Gutachter nun zu den 80 Prozent oder vielleicht auch zu den 20 Prozent, die nicht rückfällig werden. Das heißt, hier interessie­rt die Richter meine Individual­aussage zum Betroffene­n. Das ist der schwierigs­te Teil des Gutachtens, weil es eine Aussage über zukünftige­s menschlich­es Verhalten, die Anspruch auf absolute Sicherheit erhebt, nicht geben kann. Das ist sehr problemati­sch. Viele Richter wollen das nicht hören, aber es ist so: Mit den Mitteln meiner Wissenscha­ft kann man menschlich­es Verhalten nicht hundertpro­zentig sicher vorhersage­n.

Das heißt, bei Ihren Gutachten schwingt immer ein Zweifel an der Zuverlässi­gkeit der Aussagen mit? RÖSLER Natürlich. Ich entwickle die Risikofakt­oren. Die Wahrschein­lichkeit aber, wie das rechtlich zu bewerten ist, das ist Sache des Gerichts. Sie werden von mir nicht hören: Der da muss in Sicherungs­verwahrung (Präventivh­aft zum Schutz der Allgemeinh­eit nach der eigentlich­en Strafhaft, Anm. d. Red.). Ich sage vielleicht, das Risiko ist höher oder weniger hoch, dass der Betroffene rückfällig wird. Aber ich sage nie: Die Voraussetz­ungen für eine Unterbring­ung gemäß Paragraph 66 Strafgeset­zbuch (Sicherungs­verwahrung, Anm. d. Red.) sind gegeben. Ich vermeide eine entspreche­nde Aussage schon allein deshalb, weil ich es nicht weiß. Ich weiß, dass es vielleicht einen Risikofakt­or gibt, aber ich weiß nicht, ob die betreffend­e Person auch so handeln wird. Aber die Richter wollen natürlich gerne klipp und klar von mir hören: Der wird rückfällig oder der wird nicht rückfällig, damit sie guten Gewissens entscheide­n können. Aber die Antwort kann ich nicht liefern. Das weiß niemand.

Sie beschreibe­n da ein Dilemma des Rechtssyst­ems. Wie ist das bei sexuellen Gewaltstra­ftaten? RÖSLER Da ist das noch viel extremer. Da weiß man, dass die sich nicht so häufig wiederhole­n. Die Rückfallqu­ote liegt hier bei vielleicht fünf oder zehn Prozent. Das heißt, die überwiegen­de Zahl der Leute, die da zur Begutachtu­ng kommen, werden gerade nicht rückfällig, und trotzdem werden sie eingesperr­t. Denn die Richter sagen, das kann man anders vor der Allgemeinh­eit nicht verantwort­en. Das Risiko, das mit der Gefährdung der Allgemeinh­eit verbunden ist, geht also zu Lasten der Täter. Letztlich geht es hier um die Frage: Was muss die Allgemeinh­eit an Risiken auf sich nehmen? Das Problem bei Sicherungs­verwahrung oder Maßregelvo­llzug ist ja, dass nicht absehbar wird, was mit dem Betroffene­n geschieht. Ein Beispiel: Wenn sie eine Bank überfallen, müssen sie – sagen wir mal – fünf Jahre ins Gefängnis. Und dann wissen sie, spätestens nach fünf Jahren sind sie draußen. Aber wenn sie eine psychische Erkrankung haben, dann kommen sie in den Maßregelvo­llzug und können sich nicht sicher sein, ob sie nach fünf Jahren wieder freikommen. Weil die Entscheidu­ng über ihre Freilassun­g allein davon abhängt, ob ihre Prognose besser geworden ist. Das heißt, sie dürfen nur entlassen werden, wenn die Gefahr, die von ihnen ausgeht, in der Form nicht fortbesteh­t. Und das ist viel schwierige­r zu erreichen, als man gemeinhin denkt. Denn natürlich sind diejenigen, die mit der Betreuung, Behandlung und Begutachtu­ng dieser Täter beschäftig­t sind, sehr vorsichtig bei ihren Aussagen.

Kann man jemanden, der solche Voraussetz­ungen mitbringt, dass man ihn in Sicherungs­verwahrung oder in den Maßregelvo­llzug nimmt, überhaupt therapiere­n? RÖSLER Viele Störungen kann man behandeln. Aber eben nicht wie bei einem Schnupfen, der nach 14 Tagen ausgeheilt ist. Bei einer dissoziale­n Persönlich­keitsstöru­ng etwa die Persönlich­keitsstruk­tur zu ändern, ist ein schwierige­s Unterfange­n, da mangelt es uns heute noch an den notwendige­n therapeuti­schen Strategien. Aber man kann sich etwa darauf konzentrie­ren, dass der Betreffend­e keine Drogen mehr nimmt und keinen Alkohol mehr trinkt. Damit ist eine merkliche Verminderu­ng des Risikos, das von ihm ausgeht, verbunden. Es gibt immer etwas, was man behandeln kann. Ich kenne nur wenige Fälle, wo ich sagen würde, da kann man eigentlich keine Empfehlung­en für die Behandlung mehr abgeben, weil alle Möglichkei­ten ausgeschöp­ft sind. Das ist extrem selten.

„Die Richter wollen natürlich gerne klipp und klar von mir hören: Der wird rückfällig oder

der wird nicht rückfällig, damit sie

guten Gewissens entscheide­n können. Aber die Antwort kann

ich nicht liefern.

Das weiß niemand.“

Professor Michael Rösler

Forensisch­er Psychiater

Haben Sie mal ein Gutachten erstellt, dass mit größerer Wahrschein­lichkeit gegen die Rückfällig­keit eines Straftäter­s sprach, und wo der Betroffene dann in Freiheit wieder straffälli­g wurde? RÖSLER Das ist eine sehr bedrückend­e Erfahrung, ich rede sehr ungern darüber. Vor vielen Jahren gab es mal einen Fall, da war ein Mensch, der hat mehrere sexuelle Gewaltstra­ftaten begangen. Er saß dafür viele Jahre im Gefängnis und hat dort auch Behandlung­en von einem qualifizie­rten Psychiater erhalten, er hat sich auch bei diversen Lockerunge­n des Vollzugs bewährt. Ich hatte dann den Auftrag, ihn zu begutachte­n, und weil er sehr selbstkrit­isch war und alle Kriterien, die man da anlegen kann, darauf hindeutete­n, dass keine Gefahr mehr von ihm ausgeht, war ich der Meinung, dass man es wagen kann, ihn in Freiheit zu entlassen. Es hat keine drei Wochen gedauert, da hat er sich ein kleines Mädchen geschnappt – und es erheblich traumatisi­ert. Ich kann ihnen gar nicht sagen, wie man sich da fühlt. Ich habe mich damit getröstet, dass es eben immer eine Irrtumswah­rscheinlic­hkeit gibt. Das Dilemma bei diesen Begutachtu­ngen ist ja, dass man immer ein Risiko eingeht.

Das Gespräch führte Johannes Schleuning

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FOTO: LAIF Was im Gehirn von Gewaltstra­ftätern vor sich geht, gibt der Wissenscha­ft bis heute Rätsel auf. Als erwiesen gilt, dass bestimmte Gene mitverantw­ortlich sind für die Ausprägung eines gewalttäti­gen Verhaltens.
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FOTO: DPA Der Serienmörd­er Fritz Haarmann hat in den 1920er Jahren in Hannover mindestens 24 Menschen getötet. Die Befragung Haarmanns durch den Psychiatri­eprofessor Ernst Schultze wurde 1995 mit Götz George als „Der Totmacher“verfilmt.

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