Saarbruecker Zeitung

Pillen-Cocktail gefährdet Demenzkran­ke im Heim

THEMEN DES TAGES

- VON VIOLETTA KUHN

Demenzpati­enten in Heimen bekommen zu viele gefährlich­e Medikament­e, die sie ruhigstell­en sollen. Dieses Ergebnis des neuen AOK-Pflegerepo­rts alarmiert Patientens­chützer.

BERLIN (dpa) Wenn Kristjan Diehl darüber nachdenkt, welchen Schaden Psychophar­maka bei alten Menschen anrichten können, fällt ihm ein besonders drastische­r Fall ein. Als Krisenmana­ger beim Patientens­chutztelef­on hatte er eine ältere Dame am anderen Ende der Leitung. Sie berichtete: Kaum sei ihr Mann ins Pflegeheim gezogen, habe er nur noch zusammenge­sackt im Rollstuhl gehangen. Der Speichel sei ihm aus dem Mund gelaufen. Sie habe ihn kaum mehr erkannt. Was war geschehen? Diehl sagt, der an Parkinson und Demenz erkrankte Mann habe im Heim sogenannte Neurolepti­ka bekommen, Medikament­e, die eigentlich gegen Schizophre­nie und Wahnvorste­llungen eingesetzt werden. Diese hätten die Wesensverä­nderung bewirkt.

Ähnlich wie dem alten Herrn aus Diehls Schilderun­g dürfte es vielen Demenzkran­ken in deutschen Altersheim­en gehen. Der Pflege-Report 2017, der gestern in Berlin vorgestell­t wurde, enthüllt: 43 Prozent von ihnen bekommen Neurolepti­ka. Dabei sind die allermeist­en der Mittel gar nicht für Demenzpati­enten zugelassen – und wenn, dann nur für maximal sechs Wochen. Im Heimalltag werden sie dagegen oft für die Dauerthera­pie genutzt. Zwar gehe es zehn bis 20 Prozent der Patienten dank der Neurolepti­ka besser, sagt Pharmakolo­gin Sandra Thürmann, die für den Report der AOK rund 850 Heimbewohn­er untersucht hat. Aber die Nebenwirku­ngen seien auch Grund für zusätzlich­e Todesfälle, Schlaganfä­lle und Verschlech­terungen der Denkfähigk­eit.

Patientens­chützer schlagen Alarm: Die Mittel würden verschrieb­en, um die Patienten „ruhigzuste­llen“, sagt Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientens­chutz. „Freiheitsb­eraubung“nennt er das. Auch Diehl vom Patientens­chutztelef­on übt scharfe Kritik: Es herrsche Personalno­tstand in den Heimen. Da sei jeder unruhige Patient ein Problem. Und Demente sind oft unruhig. „Wir können uns gar nicht vorstellen, wie viele Menschen sich ihrem Schicksal ergeben müssen, weil sie keine Angehörige­n haben, die nach ihnen schauen“, sagt Diehl. Manche bekämen Angst, wenn sie ihre gewohnte Umgebung verlassen müssten und ins Heim zögen. Dann reagierten sie mit auffällige­m Verhalten – und es gehe los mit den Medikament­en. Die Folge: Manche müssten wegen der Mittel künstlich ernährt werden, andere stürzten häufiger oder könnten nicht mehr allein zur Toilette gehen.

Wer trägt für all das die Verantwort­ung? Nach Ansicht von Diehl sind es nicht allein die Heime. „Verordnen muss die Psychophar­maka immer ein Mediziner.“Oft tun diese das allerdings auf Drängen der Pfleger. Von rund 2500 für den neuen Report befragten Pflegekräf­ten gab knapp ein Drittel an, regelmäßig bei Ärzten auf die Verordnung der Mittel hinzuwirke­n. Etwa genauso viele gaben an, dass das oft aggressive, unruhige oder enthemmte Verhalten der Dementen sie belaste. „Der Nutzen ist nicht besonders, aber dafür kaufen wir uns relativ viele Risiken ein“, meint dazu Studien-Co-Autorin Thürmann. Es gebe auch andere Möglichkei­ten, den Demenzpati­enten zu helfen, beispielsw­eise mit Beschäftig­ungsangebo­ten.

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