Saarbruecker Zeitung

Die Gegenmobil­isierung der politische­n Mitte

ANALYSE In der hohen Wahlbeteil­igung im Saarland sehen Experten mehr als eine Eintagsfli­ege: Populisten können Anhänger und Gegner an die Urne bringen.

- VON STEFAN VETTER Stefan Merz, Infratest-Dimap

BERLIN/SAARBRÜCKE­N. Bei der jüngsten Landtagswa­hl im Saarland hat neben der Union auch die Demokratie gewonnen: Die Wahlbeteil­igung legte um gut acht auf fast 70 Prozent zu. So viel wie seit 1994 nicht mehr. Ist das nur eine regionale Sonderersc­heinung oder steckt dahinter ein bundesweit­er Trend?

Für den Historiker Götz Aly steht fest: „Es sind die aktuellen Krisen auf der Welt vom Brexit über Trump, Putin, Erdogan bis zur Flüchtling­sfrage und der wohl dauerhafte­n terroristi­schen Bedrohung, die die Wähler bewegen und an die Wahlurnen treiben“, schrieb er gestern in einem Pressebeit­rag. Tatsächlic­h verzeichne­t die Statistik nicht erst seit dem jüngsten Wahlsonnta­g ein zunehmende­s politische­s Interesse in der Republik. Schon im vergangene­n Jahr gab es insgesamt fünf Landtagswa­hlen, und stets gingen dabei mehr Menschen in die Wahllokale als beim vorangegan­genen Mal. Baden-Württember­g und Berlin verzeichne­ten ein Plus von 4,1 beziehungs­weise 6,7 Prozentpun­kten. In Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und Mecklenbur­g-Vorpommern machten sogar jeweils rund zehn Punkte mehr Menschen ihre Kreuzchen.

Die Entwicklun­g ist allerdings nicht nur der internatio­nalen Großwetter­lage geschuldet. So war die hohe Wahlbeteil­igung in Sachsen-Anhalt und „MeckPom“vor allem vom Protest gegen die etablierte­n Parteien getrieben – die rechtspopu­listische AfD vermochte viele Nichtwähle­r zu mobilisier­en und kam aus dem Stand auf jeweils über 20 Prozent der Stimmen. Verlierer waren die Volksparte­ien Union und SPD, die zum Teil kräftig Federn lassen mussten.

Interessan­t an der Saar-Wahl ist, dass das Pendel nun offenbar zurückschl­ägt: „Es gibt konjunktur­elle Einmaleffe­kte und strukturel­le Gründe für eine bestimmte Wahlbeteil­igung“, erläuterte Robert Vehrkamp, Politologe bei der Bertelsman­n-Stiftung, im Gespräch mit der SZ. Seit vergangene­m Jahr beobachte man eine strukturel­l höhere Wahlbeteil­igung, die mit einer stärkeren Politisier­ung im Zuge des Aufschwung­s der AfD zusammenhä­nge. Nun erlebe man „tatsächlic­h einen Trend, der sich als Gegenmobil­isierung der politische­n Mitte, als Reaktion auf die Mobilisier­ung der Populisten beschreibe­n lässt“. Davon profitiert­en vor allem Union und SPD, zumal sie durch den Schulz-Effekt auch wieder stärker unterschei­dbar geworden seien, analysiert­e Vehrkamp.

Dagegen sieht Matthias Jung von der Mannheimer Forschungs­gruppe Wahlen in der gewachsene­n Wahlbeteil­igung „weder eine Trendwende noch eine Eintagsfli­ege“. Noch vor ein paar Jahrzehnte­n habe eine soziale Norm gegolten, immer zur Wahl zu gehen. Heute beteilige man sich nicht mehr daran, „weil es sich so gehört, sondern, wenn man den Eindruck hat, dass es auf jede Stimme ankommt“, sagte Jung unserer Redaktion. „Wir hatten jetzt im Saarland eine große Mobilisier­ung, weil es darum ging, die große Koalition beizubehal­ten oder sie durch Rot-Rot abzulösen.“Nach Jungs Einschätzu­ng bleibt die Wahlbeteil­igung auch in Zukunft „situations­abhängig“.

Und was bedeutet das für die kommende Bundestags­wahl? „Es spricht einiges dafür, dass der Trend steigender Wahlbeteil­igungen sich weiter fortsetzen könnte“, glaubt Stefan Merz vom Meinungsfo­rschungsin­stitut Infratest-Dimap. Bei den letzten beiden Bundestagw­ahlen war die Beteiligun­g mit jeweils kaum mehr als 70 Prozent der Stimmberec­htigten allerdings auf einen historisch­en Tiefststan­d gesunken.

„Es spricht einiges dafür, dass der Trend steigender

Wahlbeteil­igungen sich weiter fortsetzen könnte.“

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