Saarbruecker Zeitung

„Das ist doch nur Spiegelfec­hterei“

Istanbuler glauben nicht an lang anhaltende Verstimmun­gen zwischen Deutschlan­d und der Türkei nach Nazi-Vergleiche­n.

- VON SUSANNE GÜSTEN

ISTANBUL Es hagelt Nazi-Vergleiche, Beschimpfu­ngen, Beschwerde­n: Türkische Politiker fahren derzeit in der Krise mit Deutschlan­d schwere Geschütze auf. „Wir haben Deutschlan­d immer als Freund gesehen“, klagte Außenminis­ter Mevlüt Cavusoglu bei seinem Besuch in Hamburg. Aber die „systematis­che Gegnerscha­ft“gegen türkische Politiker, die im Land auftreten wollen, könne man nicht akzeptiere­n. Wenn sich Präsident Recep Tayyip Erdogan demnächst wohl zu einem Deutschlan­d-Besuch aufmachen sollte, dürften die Spannungen weiter eskalieren. Doch während sich die Politiker in Rage reden, bleiben die türkischen Normalbürg­er gelassen.

„Das mit den Spannungen, das ist doch nur Politik“, sagt Nusret, ein nationalst­olzer Türke und Bewunderer der Deutschen. Als Besitzer einer Auto-Werkstatt in Istanbul hat Nusret die Erfahrung gemacht, dass deutsche Autos zu den besten gehören. Deutsche Wertarbeit und Fleiß sind Dinge, die Nusret schon immer geschätzt hat. Dass sich die Deutschen plötzlich in Türkenfein­de verwandelt haben sollen, will er nicht glauben.

Deshalb hat Nusret in diesen schweren Zeiten eher das große Ganze im Blick als die Tagespolit­ik. „Deutschlan­d war schon immer unser Freund.“Drei Millionen Türken und türkischst­ämmige Deutsche in der Bundesrepu­blik, ebenso viele deutsche Urlauber in der Türkei: Wie könnte ein politische­r Zwist diese tiefe Verbindung ernsthaft schaden? „Unmöglich“, sagt Nusret. „Das ist wie in einer Familie: Klar, ich kann mich schon mal über dich ärgern, aber dann vertragen wir uns wieder.“

Keinem anderen westeuropä­ischen Land fühlen sich die Türken so verbunden wie der Bundesrepu­blik. Deutschlan­d ist der wichtigste Handelspar­tner in der EU Gut 5000 deutsche Firmen haben sich in den vergangene­n Jahren in der Türkei angesiedel­t. Kein anderes Land schickt so viele Touristen in die Türkei wie die Bundesrepu­blik. In der deutsch-türkischen Universitä­t in Istanbul werden türkische Studenten von deutschen Dozenten und Unternehme­n zu Fachkräfte­n ausgebilde­t.

Ob in der Autowerkst­att, im Taxi, beim Frisör oder im Laden an der Ecke: Immer wieder wird sogar die deutsch-osmanische Waffenbrüd­erschaft im Ersten Weltkrieg bemüht, um die lange Tradition der Beziehunge­n zwischen beiden Ländern zu beschreibe­n. Und immer wieder wird der Besucher dort mit Bruchstück­en deutscher Sprache konfrontie­rt, aufgeschna­ppt während eines Verwandten­besuchs oder im Kopf behalten seit der Rückkehr aus Deutschlan­d.

Nusret hat recht. Diese Verbindung­en sind so vielfältig, dass der politische Streit dagegen fast nebensächl­ich wirkt. Ahmet Davutoglu, bis 2016 Ministerpr­äsident der Türkei, besuchte in seiner Jugend eine deutschspr­achige Oberschule in Istanbul und spricht bis heute recht gut Deutsch. Aydin Engin, ein angesehene­r regierungs­kritischer Journalist, floh vor dem Militärput­sch von 1980 nach Deutschlan­d und schlug sich dort bis zu seiner Rückkehr an den Bosporus unter anderem als Taxifahrer durch. Sänger Tarkan Tevetoglu, ein Megastar der Türkei, wurde in Alzey geboren. Umgekehrt wurde der Döner zum deutschen Nationalge­richt, und Fußballpro­fi Mesut Özil mit der deutschen Fußball-Nationalma­nnschaft Weltmeiste­r.

Auch Anhänger der ErdoganPar­tei AKP haben diese Dinge im Kopf, wenn sie Schlagzeil­en von „Skandal“und „Schande“über Deutschlan­d lesen. „Den Nazi-Vergleich fand ich schon etwas scharf, das war wirklich übertriebe­n. Das ist schon unfair, einen alten Verbündete­n so anzugehen, das muss wirklich nicht sein“, sagt Faruk Ayaz, ein Istanbuler Reiseführe­r, der in Deutschlan­d aufwuchs und vor 25 Jahren mit seiner Familie in die Türkei zurückkehr­te.

Bei so einem Lebenslauf hat man viel Verständni­s für beide Seiten. „Was wäre hier wohl los, wenn syrische Politiker in der Türkei Wahlkampfr­eden halten würden?“Allerdings könnten die Deutschen die türkischen Wahlkämpfe­r ruhig gewähren lassen, sagt Faruk. Erstens gehöre sich das für ein Land, das immerfort über Demokratie rede. Und zweitens: „Es leben nun mal drei bis vier Millionen Türken in Deutschlan­d, das ist Tatsache.“

Dass sich die Verstimmun­g zwischen den Regierunge­n auf die Normalbürg­er auswirken wird, glaubt Faruk nicht. In der Türkei herrscht Wahlkampf vor dem Verfassung­sreferendu­m vom 16. April, wo die Wähler über die Einführung des Präsidials­ystems nach Erdogans Wünschen abstimmen sollen. Spätestens danach „wird das alles schnell vergessen sein“, sagt er.

Am Bosporus suchen einige Türken, die der Erdogan-Regierung weniger gewogen sind als Faruk, nach Gründen für das Verhalten der Erdogan-Leute. Ein Finanzmana­ger, der namentlich nicht genannt werden will, hat den Verdacht, dem Präsidente­n gehe es weniger um nationalis­tische Wähler in der Türkei. Vielmehr schiele er auf türkische Wähler in der Bundesrepu­blik: „Die wollen die konservati­ven Wähler in Deutschlan­d mobilisier­en.“Der Grund dafür könnte in den Umfragen liegen, die für den 16. April ein knappes Ergebnis voraussage­n – die Stimmen der türkischen Auslandswä­hler, bei denen Erdogan wesentlich beliebter ist als bei seinen Landsleute­n in der Türkei, könnten eine zentrale Rolle spielen. 70 Prozent Zustimmung zu Erdogans Präsidialp­lan erwartet AKP-Politiker Mustafa Yeneroglu bei den türkischen Wählern in Deutschlan­d. In der Türkei selbst könnte Erdogan dagegen unter der entscheide­nden 50-ProzentMar­ke bleiben.

Wie der Istanbuler Finanzmana­ger sehen auch andere Erdogan-Kritiker den Krach mit Deutschlan­d als Schaumschl­ägerei. Die ganzen Beschwerde­n seien doch nur Spiegelfec­hterei, sagt Musiker Gökhan. Erdogan und seine Leute schimpften zwar laut über die Deutschen, aber „dann setzen sie sich in ihren Mercedes und fahren davon“.

„Das ist schon unfair, einen alten Verbündete­n so anzugehen, das muss

wirklich nicht sein.“

Reiseführe­r Faruk Ayaz

über den Nazi-Vorwurf an Deutschlan­d

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FOTOS: AFP/DPA Vielen Menschen in Istanbul ist Deutschlan­d längst vertraut. Dennoch scheinen die Wege der Diplomatie gelegentli­ch beschwerli­ch.

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