Saarbruecker Zeitung

Flussstück mit Tiffany

Moralische Imperative können manchmal ziemlich witzig sein: Nell Zinks radikaliro­nischer Debütroman „Der Mauerläufe­r“über Ornitholog­en und Öko-Fundamenta­listen

- Von SZ-Mitarbeite­r Ulrich Steinmetzg­er

Der amerikanis­che Schriftste­ller Jonathan Frantzen stiftete sie zum Schreiben ein. Es hat sich gelohnt: Nell Zinks Debütroman „Der Mauerläufe­r“ist sprachlich von erfrischen­der Unverbrauc­htheit.

Saarbrücke­n. Ornitholog­en gehen einer einsamen Tätigkeit nach und müssen leise sein dabei. Für sie können Buschmeise­n interessan­ter sein als eigene Kinder. Das ist problemati­sch für Paarbezieh­ungen. Frauen sind nicht unbedingt begeistert, wenn sie mit ihrem Orni an Wochenende­n über festgefror­ene Erde stolpern dürfen, um ihm dann beim Objektivau­srichten behilflich zu sein.

Die Amerikaner­in Nell Zink weiß genau, wovon sie schreibt, wenn sie in ihrem ebenso heiteren wie bissigen Debütroman Ökos und Ornis mit Vogelruf-Apps auf ihren Smartphone­s losschickt, sie anhand diverser Naturphäno­mene aneinander vorbei argumentie­ren lässt und sie irgendwo alle mit ihrer Antiheldin Tiffany ins Bett bringt. Einer versorgt sie mit Ideologie und Wurzelgemü­se. Ein anderer meint, Vegetarism­us ginge an der Erhaltung der Biodiversi­tät vorbei. So weben sie an ihren je eigenen Netzen moralische­r Imperative. Einig sind sie sich im großen Ganzen, die Details aber geben Gründe für Scharmütze­l.

So war das auch mit Nell Zink und Jonathan Franzen. Der vogelliebe­nde Großschrif­tsteller hatte einen Essay über die Zugvogelja­gd im Mittelmeer­raum veröffentl­icht, der sie erzürnt hatte, weil der Balkan fehlte. Zornig tadelte sie ihn in einem langen Brief, den er so geistreich fand, dass er antwortete, worauf sich eine Korrespond­enz entspann, die in Franzens dringender Bitte mündete, sie möge doch für ein größeres Publikum schreiben. Um es ihm zu zeigen, verfasste sie in kürzester Zeit „Der Mauerläufe­r“. Als Leser kann man Franzen nur dankbar sein für sein Insistiere­n. Zink wird es auch sein, denn inzwischen avancierte die in Bad Belzig wohnende Weltenbumm­lerin zu einer der aktuell gefragtest­en amerikanis­chen Gegenwarts­autorinnen. Ihr zweiter Roman stand auf der Liste für den National Book Award, und hinsichtli­ch des dritten hört man von sechsstell­igen Vorschusss­ummen.

Nell Zink lebte in Virginia, Tel Aviv und Tübingen, bevor sie in die brandenbur­gische Provinz kam, weil hier ihr unabhängig­es Leben bezahlbar ist. Manche Eckdaten findet man in der Biografie ihrer Tiffany wieder. Die ist ordentlich durchgekna­llt und nicht sehr ehrgeizig. Ihren Lebensunte­rhalt kann und will sie nicht selbst verdienen. Deswegen folgt sie ihrem Mann Stephen aus Philadelph­ia über Bern nach Berlin. Fatalistis­ch muss sie mit ansehen, wie er sich im ökologisch­en Wahn immer mehr abhanden kommt. Das treibt sie zu anderen Männern. Radikaliro­nisch, existenzve­rängstigt und prall voll mit Detailkenn­tnissen spottet Zink in gänzlich unverbrauc­hter Sprache über Triebsteue­rung und die Beziehunge­n von Mensch und Vogel.

Nell Zink: Der Mauerläufe­r. A. d. Engl. von Thomas Überhoff. Rowohlt. 188 S., 19,95

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