Welcher Türkei Kurs gilt nun?
Beim TV-Duell überrumpelte SPD-Kandidat Schulz die Kanzlerin. Jetzt steckt Außenminister Sigmar Gabriel in der Klemme. Seine EU-Kollegen lassen ihn im Regen stehen
Augsburg Wenn Wahlkampf auf Wirklichkeit trifft, dann können Politiker in peinliche Situationen geraten. Beim TV-Duell zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihrem Herausforderer Martin Schulz schien alles klar: Deutschland will die Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei stoppen. Aber als Außenminister Sigmar Gabriel am Donnerstag zur EU-Außenministerkonferenz nach Tallinn reiste, erlebte er den RealitätsSchock: Außer dem Österreicher Sebastian Kurz redete niemand von einem Gesprächsabbruch. Angesichts dieser Stimmungslage vermied es sogar der deutsche Außenminister und Vizekanzler, ähnlich klare Aussagen zu treffen wie die Kontrahenten im TV-Duell am vergangenen Sonntag. Denn er wusste: Ein einstimmiger Beschluss, der für einen Gesprächsabbruch zwingend nötig ist, ist nicht in Sicht.
Gestern, am zweiten Tag des Außenministertreffens, war Gabriel schon nicht mehr dabei. Dafür kam als Gast der türkische Europaminister Ömer Celik – und der konnte mit triumphalem Unterton Deutschland vorwerfen, die EU zu „instrumentalisieren“, um „bilaterale“Probleme zwischen Berlin und Ankara zu lösen. Beleidigungen und Hetzparolen, wie sie in jüngster Zeit immer wieder von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan gegen Deutschland geäußert worden waren, vermied der Diplomat.
Den Punkt für die Türkei auf dem diplomatischen Parkett konnte Celik ohne großes eigenes Zutun verbuchen. Die Mehrheit der EUAußenminister hatte nämlich bereits zuvor in Interviews mehr oder weniger deutlich klargemacht, dass man sich vom Wahlkampf in Deutschland nicht zu Entscheidungen treiben lassen will. Da werde man doch erst mal die Wahlen abwarten, hieß es sinngemäß. Gabriel ließen sie, bildlich gesprochen, im Regen stehen.
Die Wende in der deutschen Türkei-Politik wird in vielen anderen Staaten bis heute nicht als bare Münze genommen. Schließlich hatte der deutsche Außenminister vor kurzem noch erklärt, die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei seien zwar „weitgehend eine Farce“, sich aber ausdrücklich Forderungen nach einem Abbruch nicht angeschlossen. „In Wahrheit“, so Gabriel, entferne Erdogan „die Türkei in rasender Geschwindigkeit von Europa“.
Der beim TV-Duell verkündete harte Kurs gegen die Türkei ist also noch weit von einer Umsetzung entfernt. Schulz, der ehemalige Chef des Europaparlaments und langjährige Befürworter eines EUBeitritts der Türkei, hatte im TVDuell einen Salto rückwärts geschlagen und damit Merkel überrascht. Die CDU-Chefin war einerseits perplex, weil sie noch tags zuvor mit Gabriel eine andere Linie verabredet hatte. Andererseits wollte gerade sie, die bekanntermaßen immer eine „privilegierte Partnerschaft“anstelle einer türkischen Vollmitgliedschaft in der EU favorisiert hatte, Schulz in nichts nachstehen. Daher verwies sie zwar auf die Notwendigkeit eines einheitlichen Vorgehens auf EU-Ebene, erhob aber dann, ebenso wie Schulz, die Forderung nach einem Abbruch der Beitrittsgespräche.
Dagegen versuchen sich nun Vertreter anderer EU-Staaten und der Brüsseler Kommission als „besonnene Europäer“zu profilieren. Sogar der britische Außenminister Boris Johnson, der schon oft durch populistische Äußerungen auffiel, und der sich mit seinem Land auf dem Absprung aus der EU befindet, tönte oberlehrerhaft: „Wir sollten die Türkei nicht verstoßen. Sie ist für uns ein strategisch wichtiges Land.“Pragmatischer sieht der ungarische Außenminister Peter Szijjarto die Sache: „Die Türkei ist ein Land mit einer schnell wachsenden Wirtschaft“, da sei doch „irgendeine Form von strategischer Partnerschaft“interessant.
Der deutsche Türkei-Vorstoß wäre besser im Vorfeld mit den Partnern besprochen worden. Schulz machte mit seinem Überraschungscoup im TV-Duell genau den Fehler, den er an Merkels Verhalten in der Flüchtlingskrise 2015 bemängelte: sich nicht ausreichend in der EU abgestimmt zu haben.