Gibt es Gleichheit nur nach dem Krieg?
Soziale Gerechtigkeit ist das Thema der Stunde. Doch wann kommt sie zustande? Der Historiker Walter Scheidel aus Österreich hat in der Geschichte gewühlt. Seine Befunde sind erschütternd
Herr Scheidel, Sie leben seit 18 Jahren in den Vereinigten Staaten. Seit fast vier Monaten regiert dort Donald Trump, der selbst ernannte Anwalt der kleinen Leute. Geht es in Amerika nun gerechter zu?
Bisher hat sich nichts Wesentliches geändert. Noch hat Trump keine seiner großen Vorhaben durch den Kongress gebracht. Würden seine Pläne wie die Gesundheitsoder Steuerreform Gesetz werden, würde das die Ungleichheit aber eher verschärfen als lindern.
Auch Linkspopulisten wie Bernie Sanders in den USA oder Jean-Luc Mélenchon in Frankreich verstehen sich als Anwälte der Armen. Sie wettern gegen die Superreichen und fordern massive Umverteilungen von oben nach unten. Und das mit immer größerem Erfolg.
Aber auch Sanders könnte zurzeit seine Forderungen nicht durchsetzen. Die Republikaner stellen im US-Kongress die Mehrheit. Für sie kommt eine allgemeine Gesundheitsversicherung oder die Zerschlagung von Großbanken nicht infrage. Selbst viele Demokraten würden Sanders nicht folgen.
Dann helfen also nur noch Kriege, Revolutionen, Staatszusammenbrüche und Seuchen. Das, schreiben Sie in Ihrem neuesten Buch, seien die vier größten Gleichmacher in der Geschichte gewesen. Eine düstere These.
Tatsächlich waren das die treibenden Kräfte, die vom Steinzeitalter bis heute immer wieder auf radikale und blutige Weise die etablierte Ordnung umstießen und Einkommen und Wohlstand gleicher verteilten. Nehmen wir den Schwar- Tod im späten Mittelalter. Diese Pandemie kostete so vielen Menschen das Leben, dass Arbeit Mangelware wurde und die Einkommen der Überlebenden stiegen, während Landbesitz und Kapital der wohlhabenderen Klasse an Wert verloren. In Zeiten von Frieden und Stabilität dagegen fällt es kleineren oberen Gruppen leichter, Vermögen anzuhäufen und sich vom Rest der Bevölkerung abzusetzen. Die Ungleichheit nimmt zu.
Doch auch die 1950er Jahre, die Jahre des Wirtschaftswunders, waren eine Zeit des Friedens und der wirtschaftlichen Blüte. Trotzdem nahm die Ungleichheit nicht zu.
Scheidel: Das stimmt. Wir dürfen je- nicht vergessen, was dem vorausging: die Weltwirtschaftskrise und der Zweite Weltkrieg. Beide Ereignisse führten dazu, dass beispielsweise in den USA der Sozialstaat massiv ausgebaut wurde und viel mehr Steuern erhoben wurden als zuvor. Die Nachkriegsjahre waren historisch gesehen eine Ausnahme.
Bei der Finanzkrise 2008 ging es in die andere Richtung. Statt Ungleichheiten zu reduzieren, wurde die Kluft zwischen Arm und Reich in den USA, aber auch in Europa größer.
Die Staaten haben damals schnell reagiert, massive Konjunkturprogramme aufgelegt und sich teils hoch verschuldet, um die Auszen wirkungen der Krise abzufangen. Deshalb war die Finanzkrise nicht so fundamental und erschütternd wie die Weltwirtschaftskrise. Die Staaten haben in diesem Fall offensichtlich aus der Geschichte gelernt.
Der Unmut in der Bevölkerung gegen Superreiche wird trotzdem immer größer. Müssen wir bald neue Revolutionen befürchten?
Die Gesellschaften im Westen sind heute friedfertiger, die Regierungen stabiler, das Potenzial für Gewaltausbrüche geringer geworden. Allerdings sind die politischen Mittel, Ungleichheit dramatisch zu reduzieren, begrenzt. Würde eine Bevölkerungsmehrheit stärkerer Umverteilung und kostspielidoch gen Programmen wie einem bedingungslosen Grundeinkommen zustimmen? Schwer zu sagen. Allerdings sind auch Wachstumsraten von vier Prozent, wie sie Verfechter von mehr Deregulierung und weniger Staat versprechen, unrealistisch. Vielleicht bringt der technologische Fortschritt künftig mehr Gleichheit. In der Vergangenheit war er aber oft Quelle verstärkter Ungleichheit.
Befürworter von mehr sozialer Gerechtigkeit hätten nach Ihrer Logik also nur zwei Optionen. Entweder finden sie sich mit den aktuellen ungleichen Verhältnissen ab oder sie setzen auf eine Revolution oder einen Krieg. Das erscheint ganz schön bitter, oder?
Scheidel: Ich hoffe, dass niemand auf Kriege, Plagen oder Revolutionen setzt, um mehr Gleichheit zu erreichen. Immerhin hat es der Westen und zunehmend auch der Rest der Welt sehr erfolgreich geschafft, Armut zu bekämpfen. Vielleicht könnten wir mit Ungleichheit leben, solange Frieden herrscht und es weniger Armut gibt. Allerdings sind große Unterschiede zwischen Arm und Reich auf Dauer nur schwer mit demokratischen Prinzipien vereinbar. Deshalb blicke ich mit gemischten Gefühlen in die Zukunft. O
Walter Scheidel, 50 und gebürtiger Wiener, unterrichtet Alte Geschichte an der Stanford University in Kalifornien, USA. Sein Buch „The Great Leveler“ist im Januar 2017 er schienen. Eine deutsche Überset zung ist für Herbst 2018 geplant.