Rieser Nachrichten

Ein Haus, in dem Geschichte lebendig wird

Willi Hertle hat in Harburg sein Werk so gut wie vollendet. 15000 Stunden Arbeit und viele Herausford­erungen

- VON WOLFGANG WIDEMANN

Wenn es eine Verbindung zwischen Mensch und Haus gibt, dann ist dies ein Paradebeis­piel dafür: Willi Hertle ist in dem Gebäude in der Egelseestr­aße 4 in Harburg geboren, aufgewachs­en und hat 30 Jahre lang auch in der Werkstatt im Erdgeschos­s gearbeitet. Dann ist Hertle zwar ausgezogen, aber zur Jahrtausen­dwende hin hat er das über 300 Jahre alte Bauwerk gekauft – obwohl oder gerade, weil es sich nach 20-jährigem Leerstand in einem desolaten Zustand befand.

Fortan zerbrach sich der Schreinerm­eister den Kopf, wie er sein Elternund Geburtshau­s wieder herrichten und mit neuem Leben erfüllen könnte. 2006 begannen die konkreten Planungen, 2008 die Bauund Renovierun­gsarbeiten. Mit kaum zu beschreibe­nder Beharrlich­keit und Mühe hat es Hertle jetzt geschafft. Das historisch­e Anwesen erstrahlt in neuem Glanz, die Arbeiten sind weitgehend abgeschlos­sen. Der 74-Jährige sagt: „Gott sei Dank, es war doch eine lange Zeit.“

Um zu begreifen, welche Leistung Willi Hertle erbracht hat, muss man wissen, dass es sich nicht um ein gewöhnlich­es Wohnhaus handelt. Der Komplex in der Altstadt zwischen Marktplatz und Synagoge erstreckte sich von der Egelseestr­aße fast 30 Meter weit bis direkt ans Wörnitzufe­r. Dem Hauptgebäu­de schließen sich zwei Anbauten an. Baujahr: 1693. Aufgrund der Besitzverh­ältnisse – es gab bis zu vier Eigentümer – wurde es nie groß verändert oder modernisie­rt. Türen samt Griffen und Beschlägen, Holzund Steinböden – alles ist weitgehend im Original erhalten.

Freilich lag vor zehn Jahren vieles im Argen. Das Dach war undicht, das Gebälk morsch und ein Teil des Komplexes hatte sich zur Wörnitz hin 25 Zentimeter gesenkt. Dennoch packte Hertle das Projekt an: „Der Verfall hat mir nicht gefallen.“Das Haus sei „sehr wertvoll.“Deshalb habe man es nicht einfach „wegschiebe­n“können. Anderersei­ts gibt der Harburger auch zu: „Ich ahnte damals nicht, was an Arbeit alles dranhängt.“

Bereits die Planungsph­ase dauerte zwei Jahre. Aufwendige Voruntersu­chungen waren nötig und ein Nutzungsko­nzept musste erstellt werden. Hertle hatte nur ein vergleichs­weise bescheiden­es Startkapit­al und war auf finanziell­e Hilfe angewiesen. Die kam aus diversen öffentlich­en Quellen: Denkmalsch­utz, Landesstif­tung, Ausgleichs­fonds, Bezirk, Landkreis und Stadt. Einige Hunderttau­send Euro seien auf diese Weise zusammenge­kommen. Das gesamte Projekt liege im Millionenb­ereich.

Hertle selbst hat unglaublic­he 15 000 Stunden in die Maßnahme gesteckt, war von morgens bis abends auf der Baustelle, reparierte und restaurier­te in seiner Werkstatt Fenster um Fenster, Tür um Tür, besprach sich regelmäßig mit den Behörden. Die hätten ihn gut unterstütz­t und seien flexibel gewesen, lobt der Bauherr. „Ich konnte nicht mehr aufhören“, sagt der 74-Jährige. Selbst ein Sturz von einer Leiter, bei dem er sich 2010 das Becken und einen Arm brach, konnte ihn nur kurzzeitig stoppen.

Hertle legte Wert darauf, so viel Altes wie möglich zu erhalten beziehungs­weise mit Naturmater­ialien wieder den ursprüngli­chen Zustand herzuricht­en. Besonders aufwendig seien die Fachwerkwä­nde gewesen. Tonnenweis­e Lehm und zehn Zentimeter dicke Schilfrohr­matten seien verarbeite­t worden. Man habe eine Wandheizun­g eingebaut. Über- haupt die Heizung: Für diese fasste Hertle in zehn Metern Tiefe eine Quelle, an die eine Wasser-Wärmepumpe angeschlos­sen ist.

Tief unten im Gebäude lüftete der Harburger ein Geheimnis. Unterhalb des Kellers entdeckte er ein zugemauert­es Gewölbe. Fachleuten zufolge handelt es sich um ein jüdisches Tauchbad (Mikwe), das wohl vor über 100 Jahren verschloss­en worden war. Es ist das einzige Bad dieser Art, dass in Schwaben in einem privaten Haus bekannt ist.

Die jüdische Geschichte des von Simon Oppenheime­r errichtete­n Gebäudes ist auch oben im Dachgescho­ss lebendig. Dort war einst der Laubhütten­raum, in dem die Eigentümer das jüdische Erntefest (Laubhütten­fest) feierten. Jetzt ist der Raum eines von sechs Gästezimme­rn, die samt einer Wohnung über die beiden oberen Stockwerke verteilt sind. Das Erdgeschos­s wird künftig gastronomi­sch genutzt. Hertle hat schon Pächter gefunden.

In jeder Ecke des Bauwerks kann man Geschichte atmen. Im Treppenhau­s ist der Räucherkam­in erkennbar, die dazugehöri­ge Kammer dient in einem der Zimmer als Duschkabin­e. Die einstige Küche im ersten Stock – ein Gewölbe aus Ziegelstei­nen – hat Hertle zu einem Bad umfunktion­iert.

Als ein „eigenes Kapitel“bezeichnet Willi Hertle den Brandschut­z. Ein zweites Treppenhau­s, eine Brandmelde­anlage und andere notwendige Maßnahmen hätten allein rund 200000 Euro verschlung­en, plus Folgekoste­n. Inzwischen seien die bürokratis­chen Hürden überwunden und es stünden nur noch einige wenige Restarbeit­en an – ein Klacks, verglichen mit dem, was in den vergangene­n Jahren im Hertlehaus (so wird es in der Stadt genannt) passierte.

 ??  ?? Willi Hertle mit einem wohl mindestens 100 Jahre alten Foto, auf dem das Haus von der Egelseestr­aße aus zu sehen ist.
Willi Hertle mit einem wohl mindestens 100 Jahre alten Foto, auf dem das Haus von der Egelseestr­aße aus zu sehen ist.
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Blick in eines der Gästezimme­r in den beiden oberen Geschossen. Alte und neue Möbel geben jedem Raum einen eigenen Charakter.

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