Wenn Menschen zu Waffen werden
Die Zahl der Selbstmordattentate ist in den letzten Jahren massiv gestiegen. Ihre Geschichte reicht noch viel weiter zurück
Sie sind vergleichsweise einfach durchzuführen, kaum zu verhindern und zutiefst verstörend. Selbstmordattentate offenbaren die Hilflosigkeit jeder Regierung, die die Sicherheit nicht garantieren kann. Seit Beginn der 90er Jahre registrieren Wissenschaftler und Sicherheitsbehörden eine exponentielle Zunahme solcher Anschläge. Waren früher vor allem militärische und politische Einrichtungen und Repräsentanten im Visier, so zielt die Logik der Terroristen immer häufiger auf Zivilisten. Der Islamwissenschaftler Navid Kermani spricht von eiskaltem Kalkül: Es sei „propagandistische Logik“des IS, „dass er mit seinen Bildern eine immer höhere Stufe des Horrors zündet, um in unser Bewusstsein zu dringen“.
Die Medien als unfreiwillige Helfer? Aus Paris, Brüssel und Nizza lieferten Handy-Kameras live Szenen der Gewalt und der Angst. „Terror ist ein Genre der medialen Entertainment-Industrie“, sagt der Philosoph Peter Sloterdijk. Die Medienindustrie sei „terror-afin, weil sie dem Primat der Sensation verpflichtet ist“. Sloterdijk würde sich eine Nachrichtensperre nach Terroranschlägen wünschen, hält eine solche „Quarantäne“allerdings für kaum realisierbar.
Dabei sind IS, Al-Kaida und Hamas nicht die ersten, die das gewaltsame Selbstopfer praktizieren. Schon die Bibel kennt den Hünen Samson als jüdischen Untergrundkämpfer gegen die Philister, der im Namen Gottes einen Tempel zum Einsturz bringt. In der Frühgeschichte des Islam nisteten sich „Schläfer“beim Gegner ein, töteten in der Höhle des Löwen. Überleben galt als Schande.
In seinem Buch „Der Märtyrer als Waffe“sieht der Journalist Joseph Croitoru eine Wurzel des Selbstmordattentats auch in der Kriegerethik der Samurai seit Mitte des 18. Jahrhunderts. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs opferten rund 3000 japanische KamikazeKampfflieger ihr Leben, um USKriegsschiffe zu zerstören. Sie wurden als „in Schönheit fallende Kirschblüten“verklärt.
Nach 1945 sprang die Idee des Selbstmordattentats dann in den Nahen Osten über: Es waren Terroristen der linksradikalen Japanischen Roten Armee, die im Mai 1972 mit Handgranaten auf dem Flughafen Tel Aviv eines der ersten Selbstmordattentate begingen. Später wurde dieses Vorgehen im arabischen Kulturraum zu einer systematischen Waffe fortentwickelt.
Was ist die Motivation der Attentäter? Der israelische Psychologe Ariel Merari schreibt, etwa die Hälfte der von ihm befragten gescheiterten Attentäter habe sich zuvor freiwillig gemeldet. „Die anderen wurden rekrutiert und dann manipuliert.“Es handele sich meist nicht um Psychopathen oder religiöse Fanatiker. Gruppendruck und geringes Selbstbewusstsein spielten eine wichtigere Rolle. Es gibt allerdings auch eine gegenteilige These: Croitoru schreibt, viele islamistische Selbstmordattentäter fühlten sich als Elite und folgten einem vermeintlich höheren Ziel.
Überleben galt als Schande