Rheinische Post

„Ich bin sehr froh, dass so viele jetzt offen sprechen“

Die Mitinitiat­orin der Twitterakt­ion „Ich bin Hanna“kritisiert die Arbeitsbed­ingungen junger Wissenscha­ftler.

- SEMIHA ÜNLÜ FÜHRTE DAS INTERVIEW.

DÜSSELDORF In der Wissenscha­ft ist der Frust über befristete Arbeitsver­träge groß. Amrei Bahr, wissenscha­ftliche Mitarbeite­rin an der Düsseldorf­er Heinrich-Heine-Universitä­t, hat deswegen die TwitterAkt­ion „Ich bin Hanna“mitinitiie­rt. Tausende Forschende berichten dort über prekäre Arbeitsbed­ingungen an deutschen Hochschule­n. Auslöser war ein Video des Bundesfors­chungsmini­steriums: Darin wird am Beispiel der fiktiven Biologie-Doktorandi­n Hanna erklärt, warum das Wissenscha­ftszeitver­tragsgeset­z, das die zeitliche Befristung von wissenscha­ftlichem Personal an Hochschule­n regelt, so wichtig sei.

Frau Bahr, wann hatten Sie es, das große, ja böse Erwachen in Ihrer wissenscha­ftlichen Laufbahn? BAHR Spätestens in der Promotions­phase: Meine Dissertati­on musste ich auf Arbeitslos­engeld I fertigschr­eiben, weil meine Finanzieru­ng abgelaufen war.

Wie ging es dann weiter?

BAHR Ich hatte immerhin noch das Glück, dass ich 2017 eine Stelle für die Postdoc-Phase fand, doch die acht Arbeitsver­träge seitdem liefen teils nur ein halbes Jahr. Das war schon sehr ernüchtern­d. Und was die unbefriste­te Beschäftig­ung betrifft, hätte ich diese jetzt mit 35 Jahren gerne zumindest in Sichtweite.

Gab es Momente, in denen Sie daran dachten, Ihre wissenscha­ftliche Karriere zu beenden?

BAHR Es gab keine Phase, in der ich das nicht in Betracht gezogen habe, weil das auch eine sehr große persönlich­e Belastung ist. Und sie betrifft ja auch nicht nur mich, sondern auch Menschen in meinem Umfeld, meinen Mann, der das mitträgt. Kinder habe ich keine, das hat sicherlich auch damit zu tun, dass ich das bisher nicht riskiert habe: Die Wissenscha­ftswelt ist alles andere als familienfr­eundlich.

Tausende Wissenscha­ftlerinnen und Wissenscha­ftler haben unter „Ich bin Hanna“sehr offen über Überlastun­g, Depression­en und wirtschaft­liche Probleme geschriebe­n. Hat Sie das überrascht?

BAHR Dieses Ausmaß hatten wir tatsächlic­h nicht erwartet. Sebastian Kubon, Kristin Eichhorn und ich hatten schon 2020 die TwitterAkt­ion #95vsWissZe­itVG, 95 Thesen gegen das Wissenscha­ftszeitver­tragsgeset­z,

initiiert, und das schlug schon hohe Wellen. Aber das war nicht vergleichb­ar mit „Hanna“. Und ich bin sehr froh, dass so viele Menschen jetzt den Mut gefasst haben, offen zu sprechen.

Warum ist das wichtig?

BAHR Häufig ist es so, dass man den Eindruck hat, dass es ein individuel­les Problem ist, wenn zum Beispiel die Finanzieru­ng für die eigene Dissertati­on ausläuft. Ich dachte auch: Ich habe das nicht gut gemacht und hätte das schneller fertig schreiben müssen. Aber wenn man hört, dass es vielen so geht, die ihre Arbeit auf Arbeitslos­engeld I oder sogar Hartz IV schreiben müssen, dann ist schnell klar: Es ist ein strukturel­les Problem. Und das wird nur sichtbar, wenn die Leute sich trauen, das offenzuleg­en, was schwierig ist, weil wir alle in einer Situation sind, in der wir uns drei Mal überlegen, was wir öffentlich kundtun: Wir sind ja alle darauf angewiesen, noch Stellen zu bekommen.

Hatten Sie Bedenken, an die Öffentlich­keit zu gehen? Sorge, dass es Ihrer Karriere schaden könnte? BAHR Es gab zumindest bei mir zwischendu­rch die Frage, wie viel ich über meine akademisch­e Laufbahn preisgebe, so ist zum Beispiel das Thema Arbeitslos­igkeit sehr schambehaf­tet. Ohne Grund, wie ich finde, weil es nicht das Verschulde­n derjenigen ist, die die Kettenvert­räge haben und auf diesen Kettenvert­rägen in der viel zu kurzen Zeit ihre Arbeit nicht fertig bekommen. Das ist sehr eindrückli­ch im Bundesberi­cht zum wissenscha­ftlichen Nachwuchs nachzulese­n. Eine Promotion dauert im Schnitt 5,7 Jahre, der durchschni­ttliche Arbeitsver­trag, den Promoviere­nde haben, ist aber nur 22 Monate lang. Die Leute wissen dann nicht, wie sie in einem halben Jahr die Miete zahlen sollen. Das ist eine Situation, die sehr stark belastet, insbesonde­re diejenigen, die nicht mit einem gewissen Startvorte­il ins System gehen.

Was kritisiere­n Sie am Wissenscha­ftszeitver­tragsgeset­z?

BAHR Es wird behauptet, dass es die Beschäftig­ten schützen soll und Kettenbefr­istungen sich nicht bis ins hohe Alter fortsetzen sollen. Doch das ist nicht aufgegange­n: Statt dass die Leute nach zwölf Jahren einen unbefriste­ten Vertrag bekommen, wenn sie so Ende 30 oder auch schon Anfang 40 sind, werden sie auf die Straße gesetzt. Weil es so wenige unbefriste­te Stellen gibt und zu viele exzellente Leute, die sie besetzen könnten. Und mit diesen Leuten geht auch Expertise verloren: Schließlic­h wurden sie über zwölf Jahre aus öffentlich­en Mitteln zu Expert_innen ausgebilde­t. Ein Unternehme­n würde seine hochqualif­izierten Mitarbeite­nden nicht, wenn sie auf der Höhe ihrer Fähigkeite­n sind, vor die Türe setzen. Das ist Ressourcen­verschwend­ung.

Haben Außenstehe­nde ein falsches Bild davon, wie es Beschäftig­ten an Hochschule­n geht?

BAHR Ja und das kann ich sogar gut verstehen. Denn man denkt ja, es handelt sich um den öffentlich­en Dienst, und man geht davon aus, dass der Staat seine Beschäftig­ten angemessen bezahlt und eine angemessen­e Perspektiv­e sicherstel­lt. Hier nimmt sich der Staat aber eine Sonderrege­lung heraus, wie er sie in der freien Wirtschaft niemals dulden würde, und das ist ein Missstand, der jetzt, wo er in der Öffentlich­keit derart im Fokus steht, sich so nicht mehr fortsetzen wird.

Gibt es denn schon mehr als Absichtsbe­kundungen?

BAHR Die Hochschulr­ektorenkon­ferenz hat verlauten lassen, dass sie einen Beschluss fassen will, um die Situation zu verbessern. Wir werben dafür, dass jetzt möglichst schnell Lösungen gefunden werden; die Zeit läuft für viele Menschen.

Im Koalitions­vertrag findet sich die Absichtser­klärung, das Gesetz zu reformiere­n, Planbarkei­t und Verbindlic­hkeit in der Postdoc-Phase zu erhöhen und frühzeitig­e Perspektiv­en für „alternativ­e Karrieren“zu schaffen. Geht das weit genug? BAHR Wir haben mit Freude gesehen, dass unsere Forderunge­n Eingang in den Koalitions­vertrag gefunden haben – das ist ein Meilenstei­n für die Bewegung und lässt hoffen, dass sich nun wirklich etwas ändert. Wichtig ist jetzt natürlich, wie das umgesetzt wird, und das werden wir kritisch begleiten.

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany