Die Studie soll wachrütteln
Das Bistum Münster beschreitet einen neuen – und richtigen – Weg in der Aufarbeitung der Verbrechen, sagt der Theologe Thomas Schüler.
Das Bistum Münster geht einen ganz eigenen Weg bei der Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch durch Kleriker und Ordenspriester, die in dieser Diözese gearbeitet haben. Ein Forschungsteam um den Historiker Thomas Großbölting erhält Zugang zu allen Akten, ist bei der Wahl, mit wem und über was es spricht, völlig frei und kann ohne vorheriges Einsichtsrecht oder Genehmigungsvorbehalt des Bistums seine Ergebnisse veröffentlichen. Dafür verantwortet das Team auch rechtlich diese Veröffentlichung, was nicht einfach ist, wie die beschämenden Ereignisse im Erzbistum Köln belegen. Spezialisierte Kanzleien beraten kirchliche Entscheidungsträger und tragen persönlichkeits- und äußerungsrechtliche Bedenken vor, damit das Vertuschen und die Namen der Verantwortlichen nicht an die Öffentlichkeit kommen soll.
Größbölting wird gut beraten sein bei seiner Studie, die vor allem systemische Aspekte beleuchten wird, die im kirchlichen Kontext den Missbrauch und sein Vertuschen begünstigt haben, rechtliche Expertise einzuholen. Nachdem in Aachen ein gelungener Bericht der Kanzlei Westphal, Spilker und Wastl vorliegt, der stärker aus den Blickwinkeln staatlichen und kirchlichen Rechts, aber mit dem Aspekt der Benennung von Verantwortungsträgern auf der Folie des Ethos der katholischen Kirche, für eine juristische Aufarbeitung Standards gesetzt hat, eröffnet der Münsteraner Weg neue Perspektiven.Verschiedene Zugänge zu Quellen und Beteiligten bieten die Chance, Rahmenbedingungen zu rekonstruieren, die dieses Verbrechen an Kindern und Jugendlichen im scheinbaren Schutzraum Kirche ermöglicht haben.
Daraus kann gelernt werden. In vergleichbarer Weise arbeitet für das Bistum Essen seit 2019 das Institut für Praxisforschung und Projektberatung (München). Auch hier werden systemische Faktoren verstärkt aus sozialwissenschaftlicher Perspektive untersucht. Hinzu kommt hier noch, wie bei der 2013 abgebrochenen Pfeiffer-Studie, die exemplarische Befragung noch lebender Täter. Diese drei Zugänge in Aachen, Münster und Essen verdeutlichen, dass es den Königsweg in der wissenschaftlichen Aufarbeitung nicht gibt, sondern der interdisziplinäre Zugang wohl zu den aussagekräftigsten Ergebnissen führen wird.
Hierzu gehören auch kirchenrechtlicher Sachverstand und Wissen darum, wie kirchenrechtliche
Normen nach 1945 angewandt oder eben einfach ignoriert wurden. Man darf den Münsteraner Forscherinnen und Forscher wünschen, dass ihre Studie wachrütteln und den Entscheidungsträgern wertvolle Einsichten vermitteln wird.
Info Professor Thomas Schüler (59) ist Direktor des Instituts für Kanonisches Recht an der Universität Münster und Mitglied des unabhängigen Fachberaterstabes im Bistum Münster für Fälle von sexuellem Missbrauch.