Die neue Privatheit
Corona hat das Draußen zu einem verdächtigen Ort gemacht. Man betritt ihn misstrauisch, auf neue Art verhüllt mit Mundschutz, Handschutz, Schal um die Nase. Mit neuem Abstandsbedürfnis. Man bedenkt jeden Griff nach einer Klinke, jede Berührung eines Gegenstands, man beobachtet sich selbst – und die anderen, die einem zu nahe kommen könnten. Die Unbefangenheit draußen ist verloren – vorübergehend hoffentlich –, doch hat es gerade nichts Befreiendes, sich die Beine zu vertreten, unter Menschen zu gehen, Stadtluft zu schnuppern. Eher überfällt einen das Gefühl, sich unerlaubt in eine Gefahrenzone zu begeben.
Die Öffentlichkeit hat damit etwas verloren, was Teil ihresWesens war: die Freude an der zufälligen Begegnung, am ungeplanten Zusammentreffen. Ein öffentlicher Platz, so schreibt der britische Philosoph Raymond Geuss, sei ein Ort, an dem man bereit sei, mit Menschen in Kontakt zu treten, ohne sie vorher zu kennen oder ihnen das ausdrückliche Einverständnis gegeben zu haben. Das ist keineswegs belanglos. Solche lockeren, zufälligen Begegnungen prägen das Lebensgefühl und machen Orte unverwechselbar. Und so bedrückt der Anblick jedes geschlossenen Geschäfts, jedes Cafés mit hochgestellten Stühlen, jedes dunklen Theaters oder Kinos nicht nur, weil da Existenzen zerschellen. Diese aus dem Betrieb genommenen Räume sind nicht nur Vorboten der ökonomischen Krise, sondern versäumte Begegnungen, verpasstes Miteinander.
Man hat das Gehetze, den Konsumterror da draußen ja oft genug verflucht, hat sich in die Öffentlichkeit geworfen wie in einen reißenden Strom; so viele Menschen in den Fußgängerzonen, so viele Angebote in den Geschäften, so viel Zerstreuung. Man war oft froh, wenn man da raus war. Doch zugleich ist die unverbindliche Präsenz in der Öffentlichkeit, dieses Eintauchen in die anonyme Menge, mit der man die Straße, das Viertel, die Stadt teilt, ein Lebenselixier. Die schlichte Versicherung, nicht allein zu sein. Manchmal braucht man das. Manchmal tut es einfach gut, eine belanglose Unterhaltung beim Bäcker zu führen oder ein halbvertrauliches „Bis nächste Woche“auf dem Wochenmarkt zu hören. Gewöhnlich misst man dem kaumWert bei, aber auch diese kleinen Anker da draußen geben dem Leben Halt.
Doch durch Corona hat sich die Öffentlichkeit gerade in eine Sphäre verwandelt, die man möglichst kontaktarm durchhuscht und in der man Zufälligkeiten meidet. Sie ist aller kulturellen und sozialen Ereignisse beraubt, entleert, entkörperlicht. Das irritiert; und plötzlich lächeln einem die wenigen Passanten auf der Straße aus der Distanz zu, während auch sie versuchen, sich auf das neue Draußen einzustellen.
Zur gleichen Zeit verändert sich auch das Drinnen, der private Raum. Schon der Philosoph John Locke hat im 17. Jahrhundert das Private als den staatsfreien Raum definiert. Im 19. Jahrhundert machten sich auch die Juristen daran, in der Formulierung von Rechtsgrundsätzen zwischen öffentlich und privat zu unterscheiden. Der Bürger war dabei, sich eine geschützte Sphäre zu schaffen, die äußerlich geregelt war, in die ihm aber nicht hineinregiert werden sollte. Corona hat Eingriffe in diese Sphäre nötig gemacht. Es ist keine private Entscheidung mehr, mit wem sich der Einzelne trifft und was er unternimmt. Das sind vertretbare Zumutungen angesichts des hohen Gutes, das auf dem Spiel steht: der Gesundheit vor allem geschwächter Menschen. Doch ist auch das eine neue Erfahrung unserer Zeit, dass plötzlich über so private Fragen wie den Besuch bei den Großeltern öffentlich diskutiert wird – und Regeln ergehen. Das Private als staatsfreier Raum hat einen Knacks erlitten.
Auf der anderen Seite erleben viele gerade durch erzwungene Heimarbeit und Rund-um-die-Uhr-Kinderbetreuung eine fast vergessene Konzentration auf den privatesten Bezirk: die Kernfamilie. Das sorgt teils für Stress und Spannungen, und zu Recht sind Kinderschützer und Jugendamtsmitarbeiter in diesen Wochen alarmiert. Doch wo es gut läuft, wird eine Intensivierung von Beziehung erlebbar. Man isst wieder regelmäßig gemeinsam, bekommt viel vom Alltag der anderen mit. Plötzlich sehen Eltern die Lehrer ihrer Kinder live im Internet. Und die Kinder erleben, wie die Eltern sich auf Meetings vorbereiten und sich auf ihre Arbeit am Bildschirm konzentrieren müssen. Noch erscheint dieses enge Miteinander vielen womöglich wie ein soziales Experiment. Doch kann dadurch ein echtes Gespür füreinander wachsen. Das wäre ein Erstarken von Privatheit.
Und dann versuchen viele, private Momente mit Menschen, die sie gerade nicht sehen dürfen, zu simulieren. Da wird in abendlichen Video-Telefonschalten mit Freunden ein Glas Wein getrunken. Großeltern winken am Bildschirm ihren Enkeln zu. Kulturschaffende schicken Filmbotschaften aus ihren privaten Räumen an ihr vereinzeltes Publikum, um in Kontakt zu bleiben. Das funktioniert überraschend gut. Und widerlegt die alte Vorstellung, wonach es wahre Privatheit eigentlich nur analog geben kann, während im digitalen Raum alles mindestens in der Gefahr steht, von anderen gehört, gesehen, in die Öffentlichkeit gezerrt zu werden.
Natürlich ist Datensicherheit ein Thema mehr als je zuvor, aber im Netz etablieren sich gerade notgedrungen private Räume, die sich auch privat anfühlen. Es hilft eben durchaus gegen die Einsamkeit, den anderen in seinem Umfeld zu erleben, ihn nicht nur zu hören, sondern auch sprechen zu sehen. Es ist nur vermittelte Privatheit, es ersetzt auf Dauer keine Umarmung, kein physisches Beisammensein, aber das notwendige Abstandnehmen im realen Draußen zwingt zum Näherrücken im digitalen Drinnen. Auch diese Erfahrung wird bleiben.