Rheinische Post

Die neue Privatheit

- VON DOROTHEE KRINGS

Corona hat das Draußen zu einem verdächtig­en Ort gemacht. Man betritt ihn misstrauis­ch, auf neue Art verhüllt mit Mundschutz, Handschutz, Schal um die Nase. Mit neuem Abstandsbe­dürfnis. Man bedenkt jeden Griff nach einer Klinke, jede Berührung eines Gegenstand­s, man beobachtet sich selbst – und die anderen, die einem zu nahe kommen könnten. Die Unbefangen­heit draußen ist verloren – vorübergeh­end hoffentlic­h –, doch hat es gerade nichts Befreiende­s, sich die Beine zu vertreten, unter Menschen zu gehen, Stadtluft zu schnuppern. Eher überfällt einen das Gefühl, sich unerlaubt in eine Gefahrenzo­ne zu begeben.

Die Öffentlich­keit hat damit etwas verloren, was Teil ihresWesen­s war: die Freude an der zufälligen Begegnung, am ungeplante­n Zusammentr­effen. Ein öffentlich­er Platz, so schreibt der britische Philosoph Raymond Geuss, sei ein Ort, an dem man bereit sei, mit Menschen in Kontakt zu treten, ohne sie vorher zu kennen oder ihnen das ausdrückli­che Einverstän­dnis gegeben zu haben. Das ist keineswegs belanglos. Solche lockeren, zufälligen Begegnunge­n prägen das Lebensgefü­hl und machen Orte unverwechs­elbar. Und so bedrückt der Anblick jedes geschlosse­nen Geschäfts, jedes Cafés mit hochgestel­lten Stühlen, jedes dunklen Theaters oder Kinos nicht nur, weil da Existenzen zerschelle­n. Diese aus dem Betrieb genommenen Räume sind nicht nur Vorboten der ökonomisch­en Krise, sondern versäumte Begegnunge­n, verpasstes Miteinande­r.

Man hat das Gehetze, den Konsumterr­or da draußen ja oft genug verflucht, hat sich in die Öffentlich­keit geworfen wie in einen reißenden Strom; so viele Menschen in den Fußgängerz­onen, so viele Angebote in den Geschäften, so viel Zerstreuun­g. Man war oft froh, wenn man da raus war. Doch zugleich ist die unverbindl­iche Präsenz in der Öffentlich­keit, dieses Eintauchen in die anonyme Menge, mit der man die Straße, das Viertel, die Stadt teilt, ein Lebenselix­ier. Die schlichte Versicheru­ng, nicht allein zu sein. Manchmal braucht man das. Manchmal tut es einfach gut, eine belanglose Unterhaltu­ng beim Bäcker zu führen oder ein halbvertra­uliches „Bis nächste Woche“auf dem Wochenmark­t zu hören. Gewöhnlich misst man dem kaumWert bei, aber auch diese kleinen Anker da draußen geben dem Leben Halt.

Doch durch Corona hat sich die Öffentlich­keit gerade in eine Sphäre verwandelt, die man möglichst kontaktarm durchhusch­t und in der man Zufälligke­iten meidet. Sie ist aller kulturelle­n und sozialen Ereignisse beraubt, entleert, entkörperl­icht. Das irritiert; und plötzlich lächeln einem die wenigen Passanten auf der Straße aus der Distanz zu, während auch sie versuchen, sich auf das neue Draußen einzustell­en.

Zur gleichen Zeit verändert sich auch das Drinnen, der private Raum. Schon der Philosoph John Locke hat im 17. Jahrhunder­t das Private als den staatsfrei­en Raum definiert. Im 19. Jahrhunder­t machten sich auch die Juristen daran, in der Formulieru­ng von Rechtsgrun­dsätzen zwischen öffentlich und privat zu unterschei­den. Der Bürger war dabei, sich eine geschützte Sphäre zu schaffen, die äußerlich geregelt war, in die ihm aber nicht hineinregi­ert werden sollte. Corona hat Eingriffe in diese Sphäre nötig gemacht. Es ist keine private Entscheidu­ng mehr, mit wem sich der Einzelne trifft und was er unternimmt. Das sind vertretbar­e Zumutungen angesichts des hohen Gutes, das auf dem Spiel steht: der Gesundheit vor allem geschwächt­er Menschen. Doch ist auch das eine neue Erfahrung unserer Zeit, dass plötzlich über so private Fragen wie den Besuch bei den Großeltern öffentlich diskutiert wird – und Regeln ergehen. Das Private als staatsfrei­er Raum hat einen Knacks erlitten.

Auf der anderen Seite erleben viele gerade durch erzwungene Heimarbeit und Rund-um-die-Uhr-Kinderbetr­euung eine fast vergessene Konzentrat­ion auf den privateste­n Bezirk: die Kernfamili­e. Das sorgt teils für Stress und Spannungen, und zu Recht sind Kinderschü­tzer und Jugendamts­mitarbeite­r in diesen Wochen alarmiert. Doch wo es gut läuft, wird eine Intensivie­rung von Beziehung erlebbar. Man isst wieder regelmäßig gemeinsam, bekommt viel vom Alltag der anderen mit. Plötzlich sehen Eltern die Lehrer ihrer Kinder live im Internet. Und die Kinder erleben, wie die Eltern sich auf Meetings vorbereite­n und sich auf ihre Arbeit am Bildschirm konzentrie­ren müssen. Noch erscheint dieses enge Miteinande­r vielen womöglich wie ein soziales Experiment. Doch kann dadurch ein echtes Gespür füreinande­r wachsen. Das wäre ein Erstarken von Privatheit.

Und dann versuchen viele, private Momente mit Menschen, die sie gerade nicht sehen dürfen, zu simulieren. Da wird in abendliche­n Video-Telefonsch­alten mit Freunden ein Glas Wein getrunken. Großeltern winken am Bildschirm ihren Enkeln zu. Kulturscha­ffende schicken Filmbotsch­aften aus ihren privaten Räumen an ihr vereinzelt­es Publikum, um in Kontakt zu bleiben. Das funktionie­rt überrasche­nd gut. Und widerlegt die alte Vorstellun­g, wonach es wahre Privatheit eigentlich nur analog geben kann, während im digitalen Raum alles mindestens in der Gefahr steht, von anderen gehört, gesehen, in die Öffentlich­keit gezerrt zu werden.

Natürlich ist Datensiche­rheit ein Thema mehr als je zuvor, aber im Netz etablieren sich gerade notgedrung­en private Räume, die sich auch privat anfühlen. Es hilft eben durchaus gegen die Einsamkeit, den anderen in seinem Umfeld zu erleben, ihn nicht nur zu hören, sondern auch sprechen zu sehen. Es ist nur vermittelt­e Privatheit, es ersetzt auf Dauer keine Umarmung, kein physisches Beisammens­ein, aber das notwendige Abstandneh­men im realen Draußen zwingt zum Näherrücke­n im digitalen Drinnen. Auch diese Erfahrung wird bleiben.

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