Der Abenteurer kämpft nicht mehr
Rüdiger Nehberg war für viele ein komischer Kauz, der Würmer aß und andere Überlebenstipps gab. Er war aber auch ein Kämpfer für bedrohte Völker und engagierte sich gegen die Genitalbeschneidung. Nun starb er mit 84 Jahren.
BIELEFELD „Wenn du so weitermachst, wirst du nicht alt“, warnte Rüdiger Nehbergs Vater seinen Sohn, nachdem der 17-jährige Bäckerlehrling aus Bielefeld heimlich mit dem Fahrrad nach Marrakesch gefahren war. In Marokko wollte der junge Rüdiger die Kunst der Schlangenbeschwörung erlernen. Obwohl Nehberg sich immer wieder freiwillig in Lebensgefahr begab, wurde er 84 Jahre alt.
84 Jahre, in denen der Bankangestellten-Sohn, Bäcker und Konditor mit mehreren eigenen Geschäften Deutschlands bekanntester Überlebenskünstler und ein engagierter und besessener Kämpfer für Menschenrechte in aller Welt wurde. Am Mittwoch ist „Sir Vival“in seiner ausgebauten Mühle in Rausdorf bei Hamburg gestorben. Am 6. April erscheint Nehbergs letztes Buch – es trägt den Titel „Dem Mut ist keine Gefahr gewachsen“.
Vielen Menschen wird der mit dem Bundesverdienstkreuz und dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse ausgezeichnete Nehberg als etwas sonderbarer Würmerfresser in Erinnerung bleiben. 1981 wanderte er ohne Geld und Gepäck 1000 Kilometer von Hamburg nach Oberstdorf und ernährte sich nur von dem, was er in der Natur fand.Würmer, Pflanzen, Aas. Die Techniken, die ihm auf seinerWanderung und während seiner späteren Expeditionen in aller Welt mehrfach das Leben retten sollten, hatte er sich selbst beigebracht.
Mit vielen Büchern und unzähligen Vorträgen machte er die Survival-Tricks bekannt. Kinder und Manager bewunderten den zähen und humorvollen Mann gleichermaßen für sein Improvisationstalent, seinen Optimismus und seinen unerschütterlichen Glauben an sich selbst. Mit seinem Image als durchgeknallter Abenteurer hatte der ehemalige Konditor nie ein Problem.
Doch Nehberg war so viel mehr. Seit 40 Jahren kämpfte er auch für das Leben gefährdeter Völker und Menschen.„Erst war es Neugier und Abenteuerlust, der Sinn kam dazu, als ich Augenzeuge geworden war“, beschrieb Nehberg seinen Wandel vom Abenteurer zum Aktivisten. Er sah, wie im brasilianischen Regenwald der Lebensraum der Yanomami von skrupellosen Goldsuchern bedroht wurde, und setzte sich mit drei Atlantik-Überquerungen im Tretboot, im Floß und im Einbaum erfolgreich für die Indianer ein.
Auch eine Begegnung in der lebensfeindlichen Danakil-Wüste im Norden Äthiopiens sollte ihn für den Rest seines Lebens prägen. Als er im Jahr 1977 vier Monate lang mit einer Kamelkarawane durch die Danakil zog, traf er auf eine junge Frau, die vor der Zwangsverheiratung geflohen war und ihm berichtete, dass sie brutal an den Genitalien verstümmelt worden war. Nehberg vergaß ihren schrecklichen Bericht nie, machte den Kampf gegen die weibliche Genitalverstümmelung später zu seinem letzten großen Abenteuer, seiner Lebensaufgabe.
2006 gelang es ihm, einige der wichtigsten Gelehrten des Islam an der Al-Azhar-Universität in Kairo, einer der angesehensten islamischen Hochschulen der Welt, zu versammeln und sie dazu bringen, eine Fatwa, ein islamisches Rechtsgutachten zu erstellen, das die weibliche Genitalbeschneidung als unvereinbar mit dem Islam ächtet. Doch es wurde weiterhin beschnitten. „Mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Ich habe Angst, dass ich einen Herzinfarkt erleiden könnte. Ich trage Brille und Hörgeräte, ich habe ein künstliches Knie, wenn ich Treppen in den zehnten Stock steige, bin ich gleich kurzatmig“, erzählte Rüdiger Nehberg dem Autor dieses Nachrufes vor neun Jahren in der Danakil-Wüste. Damals hatte er noch einen Händedruck wie ein Schraubstock und das spitzbübische Funkeln eines Jungen in den Augen. Er hatte unbändige Energie und wirkte nicht wie ein alter Mann, dem die Zeit davonläuft. Dennoch fürchtete er bereits vor neun Jahren, dass er sterben könne, bevor er sein letztes großes Ziel erreicht haben würde.
„Ich will nicht nur Staub aufgewirbelt haben, ich will eine Spur hinterlassen“, sagte Nehberg. Mit seiner Frau Annette gründete er denVerein Target zum Kampf gegen Genitalverstümmelung. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation leben heute rund 200 Millionen beschnittene Frauen, täglich kommen Tausende hinzu. Mitstreiter in aller Welt werden Nehbergs letzten Kampf fortsetzen.
Info Unser Autor Philipp Hedemann lebte von 2010 bis 2013 als Afrika-Korrespondent in Addis Abeba und hat Rüdiger Nehberg mehrfach auf Reisen in Äthiopien begleitet.