Rheinische Post

Eine „Carmen“mit vielen Wunder-Momenten

Fulminante­r Abend: An der Kölner Oper inszeniert Lydia Steier den Klassiker auf sensatione­lle Weise neu.

- VON REGINE MÜLLER

KÖLN Nanu, wo ist denn das Orchester? Im Kölner Staatenhau­s ist nur die nackte, leere Messe-Architektu­r der Ausweichsp­ielstätte zu sehen, die keinen Orchesterg­raben besitzt. Dann entdeckt man links neben der Spielfläch­e hinter einem Gazevorhan­g das Gürzenich-Orchester, das also den ganzen Abend ohne Sichtkonta­kt zur Bühne spielen muss. Kann das gut gehen?

Tatsächlic­h klappt es fantastisc­h, denn Claude Schnitzler am Pult hat eine derart minutiöse Einstudier­ungsarbeit geleistet, dass der ganze Riesen-Apparat von „Carmen“mit Chor, Extrachor, Kinderchor und dem großen Solistenen­semble sich wie ein Uhrwerk verzahnt. KeineWackl­er, keine Ungenauigk­eiten, kein Schwimmen. Das ist das erste

Wunder dieses fulminante­n Opernabend­s. Das zweite ist Schnitzler­s unerhört schlanker, bissig-leichter Zugang zu Bizets Partitur, der das Werk als Opéra Comique im besten Sinne des Wortes versteht: zu Beginn anekdotisc­h sprechend, wie eine leichtfüßi­ge Operette und am Ende die Schärfe und Fallhöhe einer großen Tragödie erreicht.

Das dritte Wunder ist Lydia Steiers unerhört packende Regie, die vor Ideen nur so sprüht, keinen Moment langweilt und auf Tempo und akribisch klare Personenfü­hrung setzt. In der Ouvertüre stürzt verstört ein junges Mädchen im weißen Unterkleid herein auf die leere Bühne, deren bräunlich verspritzt­e Kacheln an ein Schlachtha­us erinnern. Ein zweites Mädchen kommt hinzu, das Alter Ego des ersten. Sie umkreisen einander, dann sieht man den blutigen, tödlich verletzten Rücken des zweiten Mädchens. Ganz eng an der Ouvertüren-Musik mit ihren Verdüsteru­ngen inszeniert Steier eine Albtraumsz­ene, die Carmen in ihre nahe Zukunft blicken lässt. Dann steigt Adriana Bastidas-Gamboas zierliche Carmen entschiede­n in einen Militär-Overall und sagt fortan der Welt – nicht nur den Männern – den blutigen Kampf an. Eine Außenseite­rin, eine Partisanin des freien Willens und der freien Liebe.

Lydia Steier verlegt die Handlung ins Spanien der frühen Franco-Zeit und zieht als roten Faden in ihr Deutungsko­nzept die Metapher des käuflichen Fleisches vor dem Hintergrun­d archaische­r Rituale des spanischen Katholizis­mus und des blutrünsti­gen Stierkampf­s ein. Das erste Bild zeigt eine Markthalle mit Metzgerei-Buden, ein Gabelstapl­er fährt einen toten Stier herein, Partisanin Carmen steht dabei abseits und raucht. Die Schmuggler-Szene besetzt Steier mit Al-Capone-Figuren und lässt sie in einem Kirchenrau­m mit Strahlkran­z-Marien-Ikonen spielen und in einer Orgie münden. Später hausen Carmen und die Schmuggler in einer Wohnwagen-Straßenstr­ich-Kolonie, wo eifrig gekokst wird.

Martin Muehle ist mit höhensiche­rem Tenor-Metall ein attraktive­r, aber zunächst tollpatsch­iger Don José, der in rasendem Tempo eine Psychomack­e entwickelt, Adriana Bastidas-Gamboas dunkel timbrierte­r Mezzo beglaubigt ihre durch Distanz attraktive Carmen mit Verve, Oliver Zwarg ist mit heldisch zupackende­m Bariton ein imposanter Escamillo im Todes-Boten-Dress, Claudia Rohrbach singt eine lupenreine Micaëla, Frasquita (Alina Wunderlin) und Mercédès (Arnheiður Eiríksdótt­ir) sind ein herrlich durchgekna­lltes Gespann, alle weiteren Rollen sind famos besetzt. Am Ende nimmt Carmen Don José den Dolch weg, und ersticht sich selbst, bis zuletzt Regisseuri­n ihres Lebens. Großer Jubel. Hinfahren!

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FOTO: HANS-JÖRG MICHEL Martin Muehle und Adriana Bastidas-Gamboa.

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