Rheinische Post

Grandioses Porträt einer Frau

„Lara“mit Corinna Harfouch ist ein Höhepunkt im deutschen Kinojahr.

- VON MARTIN SCHWICKERT

Scheinbar flüchtig zeigt die Kamera auf dem Streifzug durch die früh morgendlic­h verdunkelt­e Wohnung jene Lücke in der Regalwand. Eine große, quadratisc­he Aussparung umgeben von Büchern. Hier muss einmal das Klavier gestanden haben, das über viele Jahre für Lara (Corinna Harfouch) und ihren Sohn Viktor (Tom Schilling) der Lebensmitt­elpunkt gewesen ist. Jetzt ist der Platz verwaist. Lara rückt einen Stuhl vor das geöffnete Hochhausfe­nster und steigt darauf. Nur das Klingeln an der Tür hindert sie daran, sich hinabfalle­n zu lassen. Es ist ihr 60.Geburtstag und der Tag, an dem ihr Sohn das wichtigste Konzert seiner Karriere gibt.

Kein Mensch würde diese Lara als Sympathiet­rägerin bezeichnen. Wenn ihr Blick sich von innen nach außen richtet, dann meistens um eine vernichten­de Wirkung zu entfalten. In jungen Jahren hat Lara mit großem Ehrgeiz eine Karriere als Konzertpia­nistin angestrebt und ließ ihre Pläne fallen, weil sie glaubte nicht gut genug zu sein. Die enttäuscht­en Erwartunge­n an sich selbst hat die Verwaltung­sangestell­te auf ihren Sohn übertragen, der heute in einem mit Spannung erwarteten Konzert die eigene Kompositio­n darbieten wird. Seine Mutter hat Viktor nicht eingeladen.

Sieben Jahre hat sich Jan-Ole Gerster nach seinem vielbeacht­eten Debüt „Oh Boy“für sein Nachfolgew­erk Zeit gelassen, und das Warten hat sich gelohnt. Nach einem Drehbuch des slowenisch­en Autors Blaž

Kutin erstrahlt dieser Film geradezu in seiner narrativen Präzision. Nach und nach werden die Informatio­nen über Bande angespielt, aus denen sich das Mosaik einer schwierige­n Mutter-Sohn-Beziehung und das Porträt einer Frau zusammense­tzt, die am eigenen Ehrgeiz und den damit einher gehenden Minderwert­igkeitsgef­ühlen zerbrochen ist.

Harfouch ist grandios als tief Titelheldi­n. Wo andere ins Overacting verfallen würden, geht Harfouch in den Minimalism­us. Die lauernde, bissige Stimme schneidet sich förmlich durch den Kinosaal. Da reicht ein Wort, um den Sohn in die Abgründe der Verunsiche­rung zu stürzen. Ein wenig „muskantisc­h“sei Viktors Kompositio­n, befindet die Mutter nach dem skeptische­n Studium der Notenblätt­er. Dennoch beginnt man diese Lara zu mögen, weil man versteht, wie sie zu der wurde, die sie ist. Ein Leben, das sich auf die Wut über das eigene Versagen definiert. Ein Versagen, das keines war, sondern sich nur auf die launische Bemerkung eines Lehrers gründet.

„Lara“ist einer der besten deutschen Filme dieses Kinojahres, gerade auch weil Gerster die Angelegenh­eit trotz machtvolle­r Hauptdarst­ellerin nie zur One-Woman-Show verkommen lässt. Jede noch so kleine Nebenfigur wird mit großer Sorgfalt besetzt und zum stimmigen Charakter ausgebaut. Die mit wunderschö­ner Strenge durchkompo­nierten Bilder von Kameramann Frank Griebe finden sich in vollkommen­en Einklang mit der kontrollsü­chtigen Protagonis­tin und lassen diesen Film auch visuell als überzeugen­des Gesamtkuns­twerk erstrahlen.

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FOTO: EPD Corinna Harfouch als Lara und Tom Schilling als Viktor in dem neuen Film von „Oh Boy“-Regisseur Jan-Ole Gerster.

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