Chemie startet in schwierige Tarifrunde
Die IG BCE verlangt ein Zukunftskonto mit 1000 Euro. Die Belegschaft soll die Wahl haben, ob sie sich den Betrag auszahlen lässt oder als freie Zeit nimmt. Hinzu kommen eine Pflegezusatzversicherung und ein Inflationsausgleich.
DÜSSELDORF Die zweitgrößte Industriebranche, die Chemie, startet am Donnerstag in die Tarifverhandlungen für ihre rund 580.000 Beschäftigten. Ungünstiger könnten dieVorzeichen kaum sein. Die chemische Industrie gilt als Konjunkturfrühindikator. Und angesichts der sich eintrübenden Wirtschaftslage sehen die Arbeitgeber keinen Spielraum für große Sprünge. „Kostendisziplin ist das Gebot der Stunde. Wenn die Branche schrumpft, können die Entgelte nicht steigen“, heißt es beim Arbeitgeberverband BAVC.
Bei der IG Bergbau Chemie Energie (IG BCE) sehen das die Verantwortlichen anders. „Ein leichter Abschwung ist noch keine Krise – zumal wir von einem Allzeithoch kommen“, sagt Ralf Sikorski, Mitglied des Bundesvorstandes und zuständig für die Tarifpolitik. „Wenn man acht Jahre Deutscher Meister war und jetzt einmal nur als Vizemeister ins Ziel kommt, ist man immer noch kein Absteiger. Es gibt keinen Grund, über Nullrunden zu sprechen.“
Tatsächlich ist das, was der IG BCE vorschwebt, von einer Nullrunde weit entfernt: Künftig solle es ein persönliches „Zukunftskonto“in Höhe von jährlich 1000 Euro geben, über das jeder Mitarbeiter individuell verfügen könne. Neben der Umwandlung in zusätzliche freie Tage seien die direkte Auszahlung oder Nutzung für die Altersvorsorge denkbar. Weiter fordert die IG BCE die Einrichtung einer bundesweit ersten tariflichen Pflegezusatzversicherung sowie einen Inflationsausgleich. Alles in allem entspricht das einer Forderungshöhe von rund vier Prozent.
„Die Branche muss angesichts eines immer engeren Arbeitsmarkts an ihrer Attraktivität arbeiten, denn der Fachkräftemangel ist eine reale Bedrohung für die Chemieindustrie“, sagt Sikorski. „Sie finden heutzutage kaum noch Chemikanten, die zu Schichtarbeit bereit sind. Außerdem wächst die Arbeitsbelastung der Beschäftigten von Jahr zu Jahr – und unabhängig von der Konjunkturlage.“
Mit dem „Zukunftskonto“wolle die IG BCE ein Instrument schaffen, das jedem Beschäftigten mehr Freiheiten bei der Arbeitszeitgestaltung und damit eine Chance auf Entlastung bietet. „Die Arbeitgeber hätten schon im vergangenen Jahr die Gelegenheit gehabt, das Thema ,Geld gegen Zeit’ auszuhandeln“, kritisiert Sikorski.„Das wollten sie nicht.“Damals sei in einer „Roadmap Arbeit 4.0“vereinbart worden, den Komplex in dieser Tarifrunde anzugehen. „Wir werden ihn nicht fallen lassen. Schwierige Ausgangssituation hin oder her.“
Das Argument, dass dadurch dem System Arbeitszeit entzogen werde, lässt der Gewerkschafter nicht gelten: „Wir machen mit unserem Paket die Arbeit in der Branche attraktiver und sorgen dafür, dass sich mehr Menschen für die Chemie entscheiden. Mit einer vernünftigen Personalbedarfsplanung und einem intelligenten Schichtmodell bekommt man sowas ohnehin ausgeglichen.“
Gespräche beider Seiten gibt es bereits seit Anfang 2019 im kleinen Kreis. So ist Sikorski zuversichtlich, dass man trotz der Komplexität eine Lösung hinbekomme. „Natürlich ist es sportlich, am Ende einen Betrag hinzubekommen, mit dem wir alle drei Bereiche finanzieren.“
Ausschließen könne die IG BCE Streiks nie, „aber die Auseinandersetzung auf der Straße ist nicht unser Ziel und auch nicht unser Geschäftsmodell“, sagt der Vorstand. Es gehe um effiziente Verhandlungen und konsensuale Lösungen. „Die Arbeitgeber sollten uns aber nicht unterschätzen.Wir sind vorbereitet. Rund 11.000 Mitglieder verfolgen über unseren Messenger die Tarifrunde sehr, sehr aufmerksam.“