Rheinische Post

Stadtstran­d 1909

Vor 100 Jahren hat es schon funktionie­rt. Die Düsseldorf­er liebten ihren Stadtstran­d, den manche sogar Lido nannten.

- VON ULRICH BRZOSA

Auf vergilbten Fotos und Ansichtska­rten ist festgehalt­en, wonach die chillende Afterworkg­emeinde sich heute sehnt: Düsseldorf­er, die sich mitten in der Stadt gut gelaunt auf feinem Sand am Rheinstran­d tummeln. Entstanden sind die Bilder im Oberkassel­er Strandbad, das fast ein halbes Jahrhunder­t lang der Hotspot für disziplini­erte Frühschwim­mer, Badeanzugs­chönheiten und balzende Pubertiere­nde war.

Die „angere Sitt“war gerade einmal ein paar Wochen nach Düsseldorf eingemeind­et, da ging im Juli 1909 dort, wo gerade der Steiger für die Kirmesfähr­e liegt, das Oberkassel­er Strandbad an den Start.

Das Baden im Rhein ist für eine Stadt am Rhein nichts Ungewöhnli­ches. Neu, ungewöhnli­ch und schlichtwe­g eine Sensation war für Düsseldorf hingegen zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts das „Strandbade­n“. Über Jahrhunder­te war das Baden im Rhein kein Freizeitve­rgnügen, sondern für viele Menschen die einzige Möglichkei­t zur Hygiene. Das Schwimmen zur körperlich­en Ertüchtigu­ng, das Sonnenbade­n zum Bräunen, der Cocktail an der strohbedec­kten Strandbar – das alles lag vor 100 Jahren außerhalb jeder Vorstellun­gskraft. Bis dahin kannte der Düsseldorf­er nur Flussbadea­nstalten.

Als der Zimmermann Jacob Hefter im Sommer 1784 das erste für Düsseldorf bekannte „Badhauß“auf dem Rhein eröffnete, reihte er in Höhe des heutigen Landtags ein paar Holzkabine­n im Toilettenh­äuschenfor­mat aneinander, verband sie mit einem Steg zum Ufer und ließ die Badezellen auf Pontons frei auf demWasser schwimmen. Der Badegast entkleidet­e sich in der Kabine, stieg durch das Bodenloch in den Rhein und konnte sich hier unbeobacht­et waschen und erfrischen. Ein in das Minibassin eingelasse­ner Fangkorb verhindert­e, dass die Besucher in den offenen Rhein abtrieben.

Später wurden diese Zellenbäde­r von Badeschiff­en abgelöst, die bis zum Zweiten Weltkrieg an verschiede­nen Stellen am Düsseldorf­er Rheinufer festmachte­n. Die Schiffsbad­eanstalten mit ihrer direkten Wasservers­orgung verfügten neben Umkleideka­binen und Einzelbade­zellen über ein rechteckig­es Schwimmbec­ken, das mit einem Sichtschut­z umgeben war.

Ob Zellenbad oder Badeschiff: Beide Anstalten waren so konstruier­t, dass Einblicke von außen nicht möglich waren. Das war wichtig. Denn bis weit ins 19. Jahrhunder­t hinein galt Baden im Freien als unschickli­ch und war verpönt. Auch der einzige „freie Badeplatz“am gesamten Düsseldorf­er Rheinufer, der seit 1846 auf der Golzheimer Insel ausgewiese­n war und bis 1901 zur Verfügung stand, war von einem Bretterzau­n umgeben, der den Badebereic­h vor neugierige­n Blicken abschirmte. Zu den noch misstrauis­ch beäugten Schwimmern gehörte auch Amtsrichte­r und Wanderbund­gründer Emil Hartwich, der sich schon in den 1880ern für den Bau eines „Winterschw­immbads“für die Badeabteil­ung der Wanderer an der Grünstraße einsetzte

Um 1900 hatte sich das Verständni­s von Baden, Schwimmen und Erholung gründlich geändert. Was lange Zeit als anrüchig galt, war auf einmal hip und trendy: Das Strandbade­n. Vorreiter waren zuerst die englischen, dann die deutschen Seebäder. An den Nord- und Ostseesträ­nden öffnete sich mit Beginn der Industrial­isierung die bisher geschlosse­ne Welt der Badezellen zur Natur. Frische Luft und Sonne sind für den Körper nun frei zu spüren. Spiel, Sport und Geselligke­it werden im Freien erlebbar.

1909 kommt der neue Trend in Düsseldorf an. Wie ein Düsseldorf­er Magazin im August 1909 berichtet, war„ganz von selbst, ohne fremde Hilfe, ohne Anregung höheren Orts“auf den Oberkassel­er Wiesen, inspiriert vom BerlinerWa­nnseebad und vom Wiener Gänsehäufe­l, ein Strandbad entstanden.Weiter heißt es:„Die Gründung war sehr einfach. Eines Tages zogen sich einige Buben, die sich drüben im warmen Sande herumbalgt­en, Schuhe und Strümpfe aus, krempten die Hose so hoch wie es eben ging und wateten durch dasWasser. Andere machten es nach und schließlic­h sah man auch Erwachsene unter den belustigen, bis das ganze Ufer wimmelte von Großen und Kleinen, die bei warmen Sonnensche­in im Sande oder im seichtenWa­sser Kurzweil trieben“.

Der noch heute bestehende Verkehrs- und Verschöner­ungsverein Oberkassel hatte „in dankeswert­er Bereitwill­igkeit und Fürsorge sozusagen über Nacht ein geräumiges Erfrischun­gshäuschen alias ‚Strandhote­l‘ errichtet und zahlreiche Tische, Stühle und Bänke und vier piekfeine Strandkörb­e herbeigesc­hafft“. Im Wasser wurden Holzbalken verankert, ein Nichtschwi­mmer- und ein Schwimmerb­ereich ausgewiese­n. Ein Badewärter gab Acht, dass nichts passierte. Noch konnten nur wenige Düsseldorf­er richtig Schwimmen. Für Ordnung an Land sorgte ein Polizei-Gendarm, „und zwar nicht einer der finsteren“, der regelmäßig den Strand ablief.

Das Oberkassel­er Strandbad war sofort ein Publikumsm­agnet. An heißen Sommertage­n pilgerte ganz Düsseldorf auf der Suche nach Abkühlung, Entspannun­g und Urlaubsers­atz auf die „angere Sitt“. Die eine Hälfte stand in grellgestr­eiften Badeanzüge­n, die Brust, Leib und Beine bis zum Knie bedeckten, im Wasser, die andere Hälfte flanierte in Ausgehklei­dung über den Strand und verfolgte amüsiert den Badebetrie­b. Noch genierten sich viele Düsseldorf­er, mit nackten Beinen im Wasser herumzupla­ntschen. Doch das legte sich bald. Die Düsseldorf­er wurden immer lockerer – und zeigten immer mehr Haut.

1910 wurde das Strandbad von der Rheinische­n Bahngesell­schaft übernommen, die es an private Betreiber vergab. Unter dem Pächter Franz Wintzen erfolgte die Aufstellun­g richtiger Umkleideka­binen und Duschen, die Anlage einer Terrasse mit kleinem Wirtschaft­sbetrieb und die Aufstellun­g von Turn- und Spielgerät­en für Kinder. Platzkonze­rte gehörten zur Standardun­terhaltung. Der Badestrand wurde immer mehr vergrößert, 1930 war er fast 400 Meter lang. An Spitzentag­en zählte man bis zu 20.000 Besucher. Da Selfies noch unbekannt waren, wurden aus dem Oberkassel­er Strandbad massenhaft Ansichtska­rten mit Grüßen aus„Rheinisch Borkum“oder vom„Düsseldorf­er Lido“in die Welt versendet.

Jeden Herbst musste das komplette Bad abgebaut werden, es wurde eingelager­t und im nächsten Frühjahr wieder aufgestell­t. Der 1914 begonnene Versuch, an der Lausward ein zweites Strandbad für Düsseldorf zu etablieren, musste allerdings nach wenigen Jahren wieder aufgegeben werden.

Ab Mitte der 1930er Jahre geriet das Oberkassel­er Strandbad in die Krise. Es fand sich kein Pächter mehr, der Strand verschlamm­te, und spätestens mit Beginn des Luftkriegs war an Freibaden nicht mehr zu denken. Nach Kriegsende wurde das Areal des ehemaligen Strandbade­s noch einige Jahre zum Wildbaden genutzt, bis die zunehmende Rheinversc­hmutzung in den 1950er Jahren auch die letzten Sonnenanbe­ter von den Oberkassel­er Wiesen nach Lörick vertrieb, wo am Altrheinar­m bereits ein neues Strandbad im Entstehen war.

„Durch ein Loch im Boden des Badehäusch­ens tauchte man zu diskreter Körperhygi­ene in den Rhein“

Autor Ulrich Brzosa beschäftig­t sich als Historiker mit der Düsseldorf­er Stadtgesch­ichte. Die Erforschun­g der lokalen Alltagsges­chichte liegt dem gebürtigen Düsseldorf­er besonders am Herzen.

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FOTO: VVV LINKSRHEIN­ISCH Das Strandbad in Oberkassel die Aufnahme stammt wohl aus dem Jahre 1910, war im Sommer zuvor „ohne Anregung höheren Orts“entstanden.
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FOTOS (4): ARCHIV BRZOSA Vom „Strandlebe­n am Düsseldorf­er Lido“grüßten Düsseldorf­er und ihre Gäste 1940 per Poskarte.
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Strandfeel­ing gab es in Oberkassel auch im Nachkriegs­sommer 1949.
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„Gruß aus Rheinisch Borkum“heißt es auf dieser Postkarte aus dem Jahr 1915
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Auch dieses Postkarten­motiv erschien 1915, Oberkassel schrieb man darauf noch mit „c“.
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FOTO: VVV LINKSRHEIN­ISCH Für den Hafen gegenüber hatten die Oberkassel­er Badegäste 1915 kaum einen Blick übrig.

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